Kurz vor Weihnachten 2000 legt ein Unbekannter in einem iranischen Lebensmittelladen in Köln eine Stollendose in einen Korb. Dem iranischen Besitzer sagt er, er habe seine Brieftasche vergessen und komme gleich wieder. Das tut er jedoch nicht. Vier Wochen später hebt die Tochter des Geschäftsmannes den Korb mit der Dose an. Dann explodiert der Sprengsatz, die Frau wird schwer verletzt.
„Es ist bis heute nicht aufgeklärt, wer dieser Mann war“, erzählt Verena Schäffer, Landtagsabgeordnete der Grünen und Sprecherin des NSU-Untersuchungsausschusses in NRW im Schauspiel Dortmund über den NSU-Anschlag in der Kölner Probsteigasse, der bisher überhaupt noch nicht aufgeklärt ist und aktuell wieder an Brisanz gewinnt: Bisher erklärte die Bundesanwaltschaft immer, dass entweder Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt die Täter gewesen sein müssen. Jedoch weist ein Phantombild, das auf Grundlage von ZeugInnenaussagen angefertigt wurde, keinerlei Ähnlichkeit mit den beiden toten NSU-Strippenziehern auf.
Erst 2012 bestätigte der Verfassungsschutz: Der Rechtsextremist Helfer war ein V-Mann
Eine Ähnlichkeit besteht allerdings mit dem Neonazi Johann Helfer, der damals bestens in der Kölner Neonazi-Szene vernetzt war, wie Schäffer verrät: „Er war nicht in der ersten, aber immer so in der zweiten Reihe – jemand, der einfach immer gute Informationen hatte.“ Besonders empört die Abgeordnete aber, dass die damalige Verfassungsschutzleiterin Koller erst 2012 bestätigte, dass Helfer ein V-Mann war. Kurz danach trat Koller aus „persönlichen Gründen“ von ihrer Funktion zurück. Inwiefern der V-Mann Helfer aber unmittelbar am Nazi-Anschlag beteiligt war, sei schwer zu beweisen.
Vertuschungen habe es zudem beim Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße 2004 gegeben. Polizei und Behörden ermittelten damals nach möglichen kriminellen Strukturen unter türkischen LadenbesitzerInnen, statt den offensichtlichen Parallelen zu den rassistisch motivierten Copeland-Nagelbomben-Attentaten in London von 1999 nachzugehen. „Hätten Sie das getan, wären sie auch früher auf die Idee gekommen, dass Neonazis dahinter stecken könnten“, so Schäffer.
Im August beginnt der Untersuchungsausschuss mit den ZeugInnen-Befragungen
Viele Ungereimtheiten gibt es auch, wie Schäffer darlegt, im Fall Corelli (eigentlich Thomas Richter), der V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz war und vor einem Jahr an Diabetes starb. „Die Frage ist, ob er eines natürlichen Todes starb“, meint Schäffer. „Das kann natürlich alles Zufall sein, aber das war, kurz bevor er aussagen sollte“. Auch er hatte beste Kontakte zum NSU-Komplex und stand unter anderem auf der Kontaktliste von Uwe Mundlos. „Er muss sie gekannt haben.“
Zudem habe Corelli dem Verfassungsschutz 2006 eine CD gegeben, die mit NSU beschriftet war. Ausgewertet wurden die Dateien damals nicht. „Wenn es stimmt, dass sie diese CD damals schon hatten, kann es nicht sein, dass sie den Begriff NSU vorher nie gehört haben“, meint Schäffer. Trotzdem sieht sie den Untersuchungsausschuss auf einen guten Weg, ein wenig Licht in die Verstrickungen rund um den NSU-Komplex zu bringen. Statt die TäterInnen wie im NSU-Prozess zu verurteilen, gehe es um Aufklärung: „Wir können Fragen zum Unterstützungsnetzwerk stellen, was in München abgeblockt wird.“ So beginnt im August die ZeugInnen-Befragung durch den Untersuchungsausschuss. Dann soll auch Johann Helfer vorgeladen werden.
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