Seit 15 Jahren schon glänzt mitten in der facettenreichen Kulturlandschaft an der Ruhr eine kleine Perle, die sich bei näherer Betrachtung als Kaleidoskop der kulturellen Vielfalt des Reviers erweist: Das Katakomben-Theater in Essen-Rüttenscheid ist eine sehr besondere Spielstätte im Herzen der Region, die sich insbesondere durch die Förderung kultureller Teilhabe von MigrantInnen verdient gemacht hat. Zusammen mit dem Café Ada Wuppertal sowie DansArt-Networks Bielefeld haben die ‚Katakomben‘ nun den Grundstein für ein NRW-weites Netzwerk interkultureller Spielstätten in freier Trägerschaft gelegt, das am 11. Dezember im Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Vor allem im Ruhrgebiet wird kulturelle Partizipation immer noch eher auf Kreisliga-Fußballplätzen erprobt als an Orten des aus öffentlichen Mitteln geförderten Kulturbetriebs. So ernüchternd eine solche Diagnose nach jahrzehntelangen Bemühungen interkultureller Integrationsarbeit ist, muss sie doch von maßgeblichen kulturpolitischen Akteuren als Ansporn zu verstärkten Anstrengungen wahrgenommen werden, die Lücke zwischen deutscher und migrantischer Kultur zu schließen. Gerade „kulturelle Teilhabe“ sei ein „zentraler Aspekt von Integration“, betont der Psychologe und Migrationsforscher Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan in seinem einleitenden Vortrag. Der Lehrstuhlinhaber für ‚Moderne Türkeistudien‘an der Universität Duisburg-Essen und Leiter der ZfTI-Stiftung benennt zudem die „Unterbrechung der künstlerisch-traditionellen Integrationskette“ in vielen migrantischen Biographien als Ursache für eine fortbestehende Kluft zwischen den Kulturen. So sei etwa das schulische Bildungssystem immer noch nicht hinreichend ausgestattet, um einem Großteil der MigrantInnen die nötige sprachlich-kulturelle Basis zu vermitteln, um diese Kluft zu überwinden.
Auch sei die etablierte bürgerliche Kultur – etwa in Stadttheatern – weiterhin „wenig anschlussfähig“ für Menschen mit migrantischen Wurzeln; um so wichtiger sei es, dass freie interkulturelle Spielstätten wie das Katakomben-Theater dazu beitragen, diese Lücke zu füllen. „Es reicht nicht, Migranten zu belehren“, unterstreicht Uslucan – vielmehr gehe es darum, sie kulturell einzubeziehen. Voraussetzung hierfür sei zudem eine Stärkung interkultureller Sensibilität, um die künstlerische Qualität migrantischer AkteurInnen überhaupt angemessen einstufen zu können: Fremde kulturelle Aktivitäten lägen oftmals „unterhalb des Radars“ unserer Wahrnehmung. Daher gelte es, tradierte kulturelle Standards zu hinterfragen und eine ‚transkulturelle Ästhetik‘ zu entwickeln sowie die gesellschaftliche Akzeptanz von Interkultur zu stärken.
Praktische Pionierarbeit auf diesem Gebiet haben seit anderthalb Jahrzehnten Kazım Çalışgan als Leiter des Katakomben-Theaters sowie Uri Bülbül geleistet, der dort u.a. für die Presse- und Öffentlichkeit sowie im Rahmen der ‚KulturAkademie Ruhr‘ für kulturelle Bildung zuständig ist. Um diese Arbeit zu verstetigen, will Uri Bülbül jedoch endlich auch den „weißen Fleck“ auf der „Förderkarte“ der Kommunen sowie des Landes NRW gefüllt sehen. Angesichts der in den letzten Jahren weiter gewachsenen Herausforderungen im Bereich Integration sollte es der Politik gerade in Zeiten sprudelnder Steuermittel eigentlich nicht schwerfallen, über punktuelle Projektförderung hinaus endlich auch eine längerfristige Strukturförderung freier interkultureller Spielstätten zu ermöglichen. Unterstützung erfährt das Netzwerk auf kommunaler Ebene von höchster Stelle: So befürworten die Oberbürgermeister der Städte Bielefeld, Essen und Wuppertal einhellig einen gemeinsamen Antrag an des NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft, eine Verstetigung der Förderung aller drei Häuser zu ermöglichen.
Hierbei gehe es nicht um eine Fördermittel-Konkurrenz zu alternativkulturellen Einrichtungen oder bereits etablierten Spielstätten, sondern um ein befruchtendes Miteinander: „Auch Stadttheater können von uns etwas lernen – so wie wir von Stadttheatern lernen können“, ist sich Uri Bülbül sicher. Doch müsse die bisherige Selbstausbeutung der BetreiberInnen interkultureller freier Spielstätten durch eine wertschätzende Strukturförderung abgelöst werden, um eine weitere Professionalisierung in diesem Bereich zu ermöglichen. Die entscheidende Frage dürfte nun sein, ob der politische Wille der Landespolitik hierfür tatsächlich vorhanden ist oder sich eine Verstärkung der Bemühungen um interkulturelle Integration als Lippenbekenntnis erweist. Die möglichen Konsequenzen bringt Uri Bülbül auf den Punkt: „Wir sind in einer Sackgasse, wenn die Kulturgestaltung dieses Landes nicht bereit ist, die interkulturellen Spielstätten als dritte Säule neben etablierten Theatern und soziokulturellen Zentren wahrzunehmen und entsprechend zu fördern.“ Abschließend führt er dem Publikum noch eine weitere Dimension der Arbeit des Netzwerks vor Augen, indem er die oft vergessene kulturell bereichernde Facette von Migration aufzeigt – denn: „Europa ist überall!“
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