Der Bühnenraum vom Maschinenhaus in Essen ist beim Einlass stockdunkel. Sobald sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, lässt sich am hinteren Bühnenrand die Gestalt einer, nein zweier, nein dreier Frauen erahnen. Entgegen der Theater-Konvention wird es zu Beginn der Inszenierung nicht hell auf der Bühne. Die am Boden installierten Scheinwerfer blitzen immer wieder nur kurz auf. Die Tänzerinnen Léa Thomen, Linda Pilar Brodhag und Lola Villegas Fragoso scheinen diese kurzen, hellen Momente des Lichts zu suchen, ziehen sich aber immer wieder in die Sicherheit des Schattens zurück. Lautlos bewegen sie sich nah am Boden, wie magisch angezogen von der Schwerkraft.
Unterstützt werden sie von dem Musiker Antoine Arlot mit elektronisch-sphärischem Sound, der der ohnehin düsteren Szene den passenden Klangteppich ausrollt. Endlich kommt eine der Tänzerinnen (Fragoso) im Licht an, zwei Spots sind auf sie gerichtet. Am Bühnenrand liegen als Kontrapunkt die beiden anderen mit dem Rücken zum Publikum, zwei vergessene Gestalten. Fragoso tanzt ein Solo, ihre Arme sind wie Flügel, bereit den Körper abheben zu lassen. Sie ist eine Amazone, die den Bogen spannt, eine Mutter, die ihr Baby wiegt. Die Bewegungen sind groß und stark, aber immer in Gefahr von der Schwerkraft überwältigt zu werden. So beendet sie das Solo auch nicht im strahlend hellen Raum, sondern wieder als schemenhafte Gestalt zwischen den Kolleginnen.
Brodhag übernimmt und bietet ein völlig anderes Bild: Nur von einem Scheinwerfer von oben angeleuchtet steht sie da: auf zwölf Zentimeter Highheels, die Haare im Gesicht, so dass es unsichtbar und sie seltsam kopflos wirkt. Trippelnd und zappelnd bewegt sie sich auf ihren hohen Schuhen. Oder vielmehr scheint es, als bewegten die Schuhe die Tänzerin. Ein Abbild der modernen Frau, der durch hohe Schuhe Haltung und Selbstbewusstsein verkauft werden sollen? Die aber mit Blasen an den Füßen und schmerzendem Rücken teuer bezahlt werden?
Brodhags Solo wird schließlich unterstützt von Thomen und Fragoso, die sich auf die gleiche Art zu ihr gesellen. Im Publikum wird verhalten gekichert. Lustig sieht es aus, wie da rumgestöckelt wird – und gleichzeitig hilflos und traurig. Keine Spur von Haltung oder versprochenem Selbstbewusstsein. Im dritten Solo treibt Thomen den Kampf gegen die Schwerkraft und für das Aufrechtsein auf die Spitze. Sie bewegt sich kaum von der Stelle, mit geballten Fäusten versucht sie den Drang, wieder unsichtbar mit dem Boden zu verschmelzen, verzweifelt nieder zu ringen. Zum Ende des Abends treffen sich die drei Tänzerinnen in einem Kreis, tanzen zum ersten Mal in den vergangenen 45 Minuten synchron. Egal, wie schnell die wummernden Klänge des Musikers sie voran treiben, sie lösen weder Formation noch die parallel laufenden Bewegungen auf.
Der Abend will nichts weniger als eine Brücke schlagen zwischen mythologischen Frauenfiguren und dem komplexen Feld der „Frau von heute“ – ein Mammutvorhaben. Die „Compagnie HorizonVertical“ hat sich aber offensichtlich nicht einschüchtern lassen, sondern sich auf das fokussiert, was sie selbst assoziativ mit diesem großen Thema verbinden: Die Frau als Kämpferin, sowohl als Amazone als auch als Mutter. Die Frau, die das Licht sucht, weil sie es verdient, aber sich immer wieder in den Hintergrund zurückzieht. Die Frau, die versucht sich die Mode zu eigen zu machen, aber an ihrem eigenen Anspruch scheitert und vereinnahmt wird.
So entsteht vielleicht nicht der inhaltlich raffinierteste Abend, aber eine konzentrierte und dichte Atmosphäre, die ohne großen theoretischen Überbau auskommt und sich selbstbewusst auf ihre emotionale Wirkung verlässt.
„Nachtfeder“ von der Compagnie „HorizonVertical“ | Choreographie: Léa Thomen, Linda Pilar Brodhag | Tanz: Léa Thomen, Linda Pilar Brodhag, Lola Villegas Fragoso | Musik: Antoine Arlot
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