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Lacht der Bosheit ins Gesicht: Matthias Reuter
Foto: Presse

Sympathisch-boshafte Finessen

10. August 2016

Klavier-Kabarettist Matthias Reuter mit neuem Live-Album „Auswärts denken mit Getränken“

Auswärts mit Getränken, das wäre ja kein Thema. Das kennt man und fragt auch nicht weiter nach. Zumindest als Fußballfan. „Auswärts denken mit Getränken“ wirft dagegen womöglich einige Fragen auf. Wo gibt’s denn sowas, möchte vielleicht der Fußballfan wissen und die Antwort gibt ihm Matthias Reuter gerne: Natürlich nur im Kabarett. Und hier ist wirklich jeder willkommen, heißt es glücklicherweise im titelgebenden Intro seines inzwischen dritten Albums. Außerdem werden hier vorab erstmal alle Vorteile des Kabaretts gegenüber der Volkshochschule klargestellt. Das ist verständlich, bedenkt man, dass der zunächst unscheinbar wirkende Reuter Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hat und früher Lehrer werden wollte.

Als gebürtiger Oberhausener und studierter Germanist liegt es natürlich nahe, sich thematisch dem einzigartigen Dialekt des Ruhrgebiets zu widmen. Mit Titeln wie „Ich komm dir gleich dahin do“, gibt Reuter bei einem unterhaltsamen Schwatz die Richtung an. Eingeleitet mit dem schönen Zitat des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus „Die Gedankenfreiheit haben wir, jetzt brauchen wir bloß noch die Gedanken“, wird die Ruhrpott-Mentalität aufs Korn genommen und ihr gleichermaßen gehuldigt. Es solle nämlich nicht nur ein musikalischer, sondern auch ein Ruhrgebietsabend werden. Dementsprechend wird die Philosophie Walter Benjamins (Sprache als eigentliche Sphäre der Gewaltlosigkeit) und das Ruhrgebiet in Einklang versetzt.

Pädagogisch ist der heute 39-jährige musizierende Satiriker also immer noch sehr ambitioniert, was er erst kürzlich auf der trailer-Wortschatzbühne bei Bochum Total unter Beweis stellte. Hier zeigte er sich nicht nur als exzellenter Pianist, sondern gab z.B. auch den anarchischen Kita-Chaos-Song „Die Kinder in der Kita spielen EU“ zum Besten, der dritte Song des Albums, der an mehreren Stellen die aktuelle Europapolitik kritisch, aber spielerisch hinterfragt. Auch um das große Thema Flüchtlinge macht Reuter dabei keinen Bogen. Zu rechtspopulistischen Parteien wie der AfD bezieht er klare Position: „Wer lädt die eigentlich zur besten Sendezeit in die Talkshows ein?“, heißt es dazu sehr treffend in „Geh weg mit deiner Scheiße und mach die Musik wieder an!“. Dieser Country-Song der besonderen Art stellt die berechtigte Frage, ob man mit manchen Meinungen nicht einfach mal, trotz Meinungsfreiheit, zu Hause oder am Tresen bleiben sollte.

Reuter arbeitet nicht mit Zahlen und Statistiken, sondern zeigt sich als Meister sozialpsychologischer Beobachtung. Mit der Lesung des Flüchtlingsmusicals „Gerda und Rolf“ nimmt das Album Kurs auf seine Höhepunkte. Es kann verraten werden, dass Gerda und Rolf seit der Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft in direkter Nachbarschaft ihr Haus nicht mehr verlassen haben. Permanent beobachtet das sozial unterdurchschnittlich begabte und paranoide Pärchen seither die Umgebung mit Hilfe von Überwachungskameras. Ein böses Erwachen erwartet die beiden dann ausgerechnet am Tag der deutschen Einheit. Und Reuter schlägt die deutsche Wohlstandsborniertheit zudem mit ihren eigenen Waffen.

Im wörtlichen Sinne einreihen kann sich da das Thema Karneval. „Das ist alles ganz anders gemeint“ zählt zu den absoluten Highlights des Albums. Auf dem Song wird zur Abwechslung mal den weiblichen Flüchtlingen erklärt was Karneval feiern in Deutschland bedeutet – und warum man doch bitte nicht gleich das Pfefferspray rausholen muss, wenn Ehemänner ihre Eheringe verstecken, um sich dann mit „Ich bin der Bi-Ba-Butzemann“ lüstern-betrunken vorzustellen. Eine „bitterböse“ arabische Klavierversion von Viva Colonia am Ende, setzt dem Ganzen die Krone auf.

Die deutsche Feier- und Trinkkultur, vornehmlich im Hinblick auf bestimmte Volksfeste, nimmt Reuter nachweislich gerne auseinander. Sehr passend, wo gerade doch wieder Cranger-Kirmes ist. Wer Reuter auf BO-Total erlebte, weiß wahrscheinlich noch, wie er das bayrische Oktoberfest – sämtliche Abkömmlinge inbegriffen – zum Symbol für eine geistig degenerierte Vollrauschkultur erklärte. Das Fazit: „Wenn ihr schreit Mia san mia, dann schreien wir zurück: Mia auch!“. Unvergessen bleiben diese Antwortrufe des Publikums. Der Song heißt „Oktoberfeste im Revier“ und ist natürlich auch auf dem Album vertreten.  

„Das Handy das Mirko nicht mag“ ist Reuters irrwitziges Statement zum Smart-Phone- und Digitalisierungszeitalter. Der Song wurde aus der Sicht eines Smart-Phones geschrieben. Zu dessen Pech wurde es an Mirko verschenkt und sieht sich nun fortan dessen wahnwitzigen „Problemen“ ausgesetzt. Es vegetiert dahin und leidet extrem unter Mirkos Geschwafel und seinen App-Anwendungen. Eine rasante und spaßige Kritik an den „digital Eingeborenen“, wie Reuter sie nennt.

Generell neigt der Künstler dazu, skurrile, fremdartige oder schlichtweg gerne vermiedene Perspektiven zu kreieren. In diesem Zusammenhang erreicht „Herr Bulgur und Herr Förster ham geheiratet“ eine besondere Intensität. Die beiden Herren sind ein Liebespaar, das exorbitant gegen sämtliche konventionellen Vorlieben, also Normen, verstößt. Ein homosexuelles, frisch verliebtes Rentnerehepaar, ein Christ und ein Moslem, setzen sich auf einer Sightseeingtour durch Deutschland selbstbewusst in Szene. Diese Ode, nicht an die Toleranz, sondern die Akzeptanz und den Respekt, sorgt für positive Selbstreflexionen. Das Thema „Selbstkritik“ ist in diesem Zusammenhang übrigens noch mal ein eigenes Kapitel gegen Ende des Albums.

Insgesamt 15 Titel auf knapp 80 Minuten Spielzeit wurden thematisch perfekt aufeinander abgestimmt. Der schöne rote Faden fällt auf. Durchweg geht es bei Reuter zwar sehr musikalisch zur Sache, trotzdem wird ein ungemeiner Facettenreichtum geboten. Gesellschaftskritik und Entertainment, Literatur und Lyrik, Philosophie und Politik. In diesem Konzept steckt fast alles, was Kabarett je ausgemacht hat. Neben seiner musikalischen Qualität ist Reuters selbstironische Art dabei sehr angenehm, er provoziert mit sympathisch-boshaften Finessen. „Dumme Gedanken hat jeder, aber der Weise verschweigt sie“, wird zum Ende Wilhelm Busch zitiert. Reuter gibt auch den dummen Gedanken Raum, vergisst aber nicht, sie ins rechte Licht zu rücken. Das ist nicht nur weise, sondern vor allem auch extrem unterhaltsam.

Matthias Reuter: Auswärts denken mit Getränken (CD)

Kevin Vitt

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