Den großen Stolz merkt man Hartmut Salmen an, als er an diesem Montagabend im Dortmunder Literaturhaus berichtet, wie sehr es ihn freut, Lucy Fricke präsentieren zu können. Die Autorin hat ihre große Lesereise zu „Töchter“ eigentlich fast abgeschlossen und man war im Gespräch zu einem Auftritt beim diesjährigen Les.Art-Festival, als ein anderer Termin dazwischenkam. Glücklicherweise bot sich dann doch noch eine Möglichkeit, Dortmund in den Terminplan einzufügen. Glücklicherweise vor allem für die zahlreich erschienenen Dortmunder Literaturfreunde.
Lucy Fricke wickelt ihr Publikum bereits mit ihren einleitenden Worten um den Finger, als sie vom Vortag berichtet, wo sie im Rahmen des „Schaustellen“-Festivals in Münster in einem kalten Zirkuszelt „annähernd ohne Publikum“ las: „Da freue ich mich, heute in einem netten Literaturhaus mit Heizung zu lesen – und es sind sogar Leute da…“
Die Handlung des Romans setzt ein in Rom. Die Ich-Erzählerin Betty beobachtet, wie im Pantheon ein Werbeballon von Victoria’s Secret im Luftzug tänzelt und sein Entkommen in den römischen Himmel vom Volk bejubelt wird wie eine Messias-Erscheinung. „Das ist genau so passiert“, schlüpft die Autorin kurz aus ihrer Vorlese-Rolle als Reaktion auf das Lachen im Publikum. Noch in der Kirche erhält Betty einen Anruf ihrer Freundin Martha, der den Startschuss setzt für ein wunderbares literarisches Roadmovie: Marthas krebskranker Vater hat beschlossen, seinem Leben in der Schweiz ein Ende zu bereiten und bittet für diese Reise um Begleitung.
Die Zuhörer finden sich kurz darauf in einem altersschwachen VW Golf wieder, in dem ein sterbender alter Mann und zwei Frauen um die Vierzig Richtung Süden fahren. Im Wagen herrscht der Geruch von Anspannung, Traurigkeit, Angst, Alter und zu viel Nähe. Betty ist mit wunderbar trockenem Humor ausgestattet und ihre Erzählstimme glänzt mit ebenso intelligenten wie sarkastischen Bemerkungen. „Ich führe ein Leben, für das Generationen von Frauen vor uns gekämpft haben. Das kannst Du unmöglich verkorkst nennen. Ich bin das Maximum an Freiheit“ ist eine davon. Lucy Fricke hält den Kontakt mit dem Publikum, indem sie nicht weniger trocken kommentiert: „Da lacht der Mann in der ersten Reihe...“ – Auch wenn das Publikum überwiegend weiblich ist, haben die Männer an diesem Abend nicht den Eindruck, zur Zielscheibe des Humors zu werden. Die Macken von Männern und Frauen werden gleichermaßen bloßgelegt. Nach einer äußerst witzigen Passage, in der die beiden Frauen darüber sinnieren, dass heutzutage eine ganze Generation aufgrund von flächendeckenden Tätowierungen bestens auf die Demenz vorbereitet sei („Da können sie ihren Körper anschauen und sich erinnern“), wirft die Autorin kurz ein: „An dieser Stelle habe ich immer ein wenig Angst, dass ein Tätowierter ohne Humor im Publikum sitzt.“
Die unaufgeregte, sehr angenehme Stimme Lucy Frickes und ihre sympathische Art, durch den Roman zu führen und manche Stellen ad hoc zu kommentieren, lassen die Stunde Lesezeit wie eine Viertelstunde wirken. Trotz der zahlreichen Lacher wird bereits in den ausgewählten Passagen deutlich, dass der Roman sich durchaus mit Tiefgang mit dem Abschiednehmen und dem Verhältnis zwischen Vätern und Töchtern befasst. Im anschließenden Gespräch erläutert sie, dass sich in unserer heutigen Zeit Männer erstmals mit ihrer Vaterrolle dermaßen identifizieren. Früher waren Väter in der Regel abwesend, ob auf der Arbeit oder im Krieg. Ob denn auch die Mütter im Roman eine Rolle spielten, wird gefragt – „die Mütter rufen an“, lautet die kurze, aber alles sagende Antwort.
Aktuell arbeitet die Autorin am Drehbuch für die geplante Verfilmung des Romans: „Obwohl ja in manchen Rezensionen gesagt wurde, das Buch sei sehr filmisch erzählt, fiel mir dabei erst auf, dass die Figuren eigentlich die ganze Zeit nur sitzen. Für den Film muss ich mir da noch was überlegen…“.
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