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In reduzierter Duo-Besetzung näher an den ursprünglichen Kompositionen
Foto: Frank Schorneck

Your voice is like home

01. Oktober 2020

Lilly Among Clouds in der Zeche Carl in Essen – Konzert 09/20

Es hätte ein lauer, verzauberter Spätsommerabend sein sollen, von einer „leuchtenden Sonne über dem grünen Innenhof“ hatten die Veranstalter in ihrer Ankündigung geträumt – und nicht zuletzt gehört es sich so für eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „CARLs Draußensommer“ – dass in unseren Breiten das Wetter Ende September trotz Klimawandels bei diesen Plänen nicht so mitspielt, ist allerdings auch nicht wirklich überraschend. So war es sowohl für die Musikerinnen als auch für das Publikum das erste Hallenkonzert seit vielen Monaten, als Lilly Among Clouds in Duo-Besetzung die Bühne der Kaue in der Zeche Carl enterte.

Das Corona-Konzept mit 2er-Bestuhlung, Abständen, Wegeführung und Desinfektionsmöglichkeiten wurde kurzerhand von draußen auf den Innenraum übertragen – wobei zumindest bei den Abständen zwischen den jeweiligen 2er-Plätzen und auch den Abständen zwischen den Reihen von den empfohlenen 1,50 Metern ziemlich großzügig nach unten abgewichen wurde. Lediglich zwischen Bühne und erster Reihe war der Abstand überaus reichlich bemessen. Aber bei dem ruhigen Konzert und bestens disziplinierten Publikum ging das Konzept dennoch auf. Die nicht gerade geräuscharme Lüftungsanlage, die man vor Corona bei einem solchen Konzert sicherlich runtergeregelt hätte, untermalt den Gig mit einem herbstlichen Grundrauschen.

Zum Glück kein Lilly-Hype

Kurz nach 20 Uhr betritt Lilly Among Clouds (mit bürgerlichem Namen Elisabeth Brüchner) gemeinsam mit der Cellistin Clara Jochum die Bühne. Man sieht ihnen an, dass sie es kaum fassen können, in einem zwar übersichtlich bestuhlten, aber dabei nahezu ausverkauften Raum spielen zu dürfen. In ihren Ansagen, die spürbar von Herzen kommen, betont Lilly immer wieder, wie glücklich sie dieser Abend macht. Und das Publikum kann dieses Gefühl nur zurückgeben. Ihr Auftritt beim deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2019 machte die Musikerin, Sängerin, Komponistin und Texterin einem größeren Publikum bekannt; doch auch, wenn sie im Finale mit Sicherheit einen besseren Platz abgestaubt hätte als die Schwestern der Retorte, sind ihre Fans vermutlich ganz froh, dass es nicht zum großen Lilly-Hype gekommen ist und man sich in kleinen Clubs zu familiären Gigs treffen kann.

Mit ihrer Band war Lilly Ende letzten Jahres im Bochumer Bahnhof Langendreer zu Gast und noch kurz vor dem Shutdown in der Essener Weststatthalle. Dort konnte sich das Publikum auf den Groove, die Tanzbarkeit ihrer Songs ebenso freuen wie auf ausgefeilte, opulent instrumentierte Arrangements – in der Duo-Besetzung kommen die Stücke reduziert, aufs Wesentliche eingekocht daher. „Das ist sehr emotional für mich, die Songs praktisch wieder so zu hören, wie ich sie ursprünglich am Klavier zu komponieren begonnen habe“, gewährt Lilly Einblick in ihre Gefühlswelt. Das Zusammenspiel mit Clara Jochum (die erst vor knapp einem Monat den Songwriter Hannes Wittmer im Außenbereich der Zeche Carl begleitet hat und somit auch das Open-Air-Gefühl in Essen kennt) erweist sich als ein wahrer Glücksfall für die Musik. Das Cello, für das Clara Jochum auch Loops nutzt, fügt sich wundervoll in die Kompositionen und auch ihre bisweilen sphärisch wie Heather Nova klingende Stimme ist eine gelungene Ergänzung zu Lillys teils kehligem, durchdringendem Timbre.

Liebe im Raum

Natürlich fehlt „Surprise“, nicht, die Grand Prix-Vorentscheid-Hymne, die sie auf der letzten Tour ganz puristisch lediglich am Piano gegeben hat und die durch das Cello wieder nahezu orchestral wirkt, jedoch ohne den aufgeladenen Bombast der Eurovisionssendung. Bei „Listen to your Mama“ nimmt das Publikum die Aufforderung zum Mitsingen dankbar auf. „Musik machen ist so ein bisschen wie Liebe: Wenn man sie teilt wird sie mehr“, stellt Lilly in einer ihrer Ansagen fest und wenn sie das sagt, klingt es keineswegs nach Kalenderspruch: An diesem Abend schwingt so viel mehr noch durch den Raum als die bloße, großartige Musik – da ist das gemeinsame Live-Erlebnis, ein Gefühl, das vielen hier spürbar gefehlt hat, da ist das Gefühl, gemeinsam mit Musikern und Gästen zu einer Familie zu gehören, da ist wirklich und wahrhaftig Liebe im Raum. Die eine oder andere Träne stiehlt sich in so manchen Augenwinkel und man verliert sich gemeinsam in der glasklar ausgesteuerten Musik.

In dem coronabedingt kaum länger als 60 Minuten dauernden Set präsentiert Lilly ein kleines Best of von „Look at the Earth“ über „Remember Me“ bis „Your Hands are like Home“. „Draußen ist es um diese Zeit immer schon ein wenig ungemütlich“, charakterisiert Lilly die Open Air-Konzerte dieser Corona-Tour, „da möchte das Publikum dann auch irgendwann nach Hause“. In der Zeche Carl an diesem Abend ist dies nicht wirklich der Fall, die Gänsehaut kommt allein durch die Wirkung der Musik und mit (brav am Platz) stehenden Ovationen kitzeln die Besucher noch eine Zugabe heraus, aber dann ist tatsächlich Schluss. Dafür gibt es noch eine Menge herzlichen Smalltalk am improvisierten Merch-Stand, den die beiden Musikerinnen selbst betreuen. „Ich hoffe, man sieht, wie ich unter der Maske lächle“, sagt Lilly zum Abschied. An diesem Abend hat man das glückliche Lächeln sogar hören können.

Frank Schorneck

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