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Kathrin Mädler
Foto: privat

„Was ist das eigentlich, was wir Humanismus nennen?“

27. September 2022

Kathrin Mädler bringt „Kissyface“ erstmalig auf die Bühne – Premiere 10/22

Eine Welturaufführung am Theater Oberhausen. Das Motto der Spielzeit: Gute Hoffnung. Die neue Intendantin im Gespräch zu ihrer Inszenierung von Noah Haindles Stück.

trailer: Jacob Chansley, der selbsternannte QAnon-Schamane, ist das Cover für ein Theaterstück. Was haben wir mit den Folgen der Waffengesetzgebung in den USA zu schaffen?

Kathrin Mädler: Also ich bin ein großer Fan des US-Dramatikers Noah Haidle. Weil er einerseits eine unglaublich emotionale Theaterfantasie hat, aber anderseits auch immer mit einer großen Härte und Schärfe auf die existentiellen Fragen des Lebens und des Zusammenlebens schaut. Ich finde „Kissyface“ ist ein politisches Stück, dabei ist Haidle sonst kein vordergründig politischer Autor. „Kissyface“ ist inspiriert vom Sturm auf das Kapitol, daher kommt der Schamane, der auf dem Plakat auch schon in der Brechung erscheint, die er dann auch im Stück erfährt.

Der Plot?

Da wird eine Highschool-Bibliothek von einem Bürgerkrieg heimgesucht. Das ist die Beschreibung eines gesellschaftlichen und sozialen Zustands von Spaltung. Zentrale Figur des Stücks ist wie bei Haidle so oft eine wunderbare Frauenfigur, eine Bibliothekarin, die, man weiß nicht wie lange, wahrscheinlich seit 2.000 Jahren eine Highschool-Bibliothek betreut, pflegt, liebt, beschützt und das Weltwissen irgendwie in ihren Händen hält, mit dem Wissen, dass es da etwas gibt, was den Kern des Menschseins berührt. Wie das genau zu fassen ist, könnte sie gar nicht formulieren, sie macht das mit so einer Sisyphos-haften, freundvollen Vergeblichkeits-Anstrengung, die aber sehr bejahend wahrgenommen wird. Nun wird diese Highschool von der gegnerischen Highschool angegriffen und daraus wird ein Bürgerkrieg, der zunehmend Niederschlag findet. In die Bibliothek kommen Soldaten rein, die Tochter der Bibliothekarin zieht in den Krieg, der Football-Coach wird zum Lieutenant und der Rektor der Schule ist wie eine Trump-Figur. Es geht um die Frage, was ist das eigentlich, was wir noch als demokratische Grundwerte behaupten, was ist das, was wir Humanismus nennen. Was ist das, was wir Bildung nennen, und wie hilflos verteidigen wir uns eigentlich gegen all das, was gerade um uns herum an Verwerfungen und Wahnsinn passiert? Da sind wir wieder beim US-Waffengesetz und dem Schamanen.

Und wie kommt Gott darin vor?

Gott spricht nicht mehr mit uns. Das ist die wunderbare Setzung in diesem Stück: Gott spricht seit 2.000 Jahren nicht mehr mit uns.Man kann sich fragen, was die mangelnde Fähigkeit der Menschen, einander empathisch zuzuhören, ausmacht. Die Abwesenheit dieser Fähigkeiten, die man momentan gesamtgesellschaftlich beobachten kann, die beschreibt Haidle über den nicht mehr mit uns sprechenden Gott. Und die Mischung ist immer das Wunderbare bei Haidle: es ist ein zartes, mit warmen Figuren versehenes Stück, mit alltäglichen und manchmal sehr poetischen Dialogen, was dann aber auch in die Groteske knallt.

Aber mit guter Hoffnung hat das Stück nichts zu tun, oder?

Doch, ich finde, es hat mit guter Hoffnung zu tun. Der Autor hat einen unglaublich humorig-bösen Blick auf die Menschen, er hat ein großes Bewusstsein für die Abgründe, die wir alle in uns tragen und die wir ungern besichtigen. Und er stellt in dem Stück sehr klar die Frage, ob der Mensch überhaupt zum Guten fähig ist. Dann haben die Figuren aber so eine Wärme in sich und so eine schmerzhafte Sehnsucht wie wir alle, dass darin auch wieder sehr viel Glauben an die Menschen steckt. Mehr als ich vielleicht habe.

Wie inszeniert man denn so eine schwarz-humorige Gesellschaftsanalyse in Oberhausen – mit Musik?

Den Soundtrack von Cico Beck gibt es, aber es wird nicht gesungen. Gott singt nicht, er schweigt. Wir machen das im Studio, der ehemalige Saal 2. Das ist eine Studiobühne. Und die Leute sitzen mit uns in der Bibliothek. Wir haben eine immersiv-realistische Situation und in die brechen dann die grotesk-überzeichneten Figuren, was man bei Haidle gut machen kann, weil die immer eine realistisch-psychologisch feine Grundierung haben, deshalb kann man sie auf der Bühne etwas überzeichnen, was eine ganz schöne Spannung ergibt. Dann gibt es Splatter-Momente, es gibt Hollywood-Momente, es finden alle möglichen expressiven Genres irgendwie Eingang in das Stück. Es kommt aber immer wieder zu einem fein-menschlichen Austausch zurück. Diese Spannbreite muss man in der Inszenierung erzeugen und wir sind auf der Suche nach den ästhetischen Mitteln dafür.

Und warum findet die Welturaufführung ausgerechnet in Oberhausen statt?

Weil schon eine längere Verbindung mit Noah Haidle besteht. Ich habe schon zwei Stücke von ihm inszeniert. Darüber ist der Kontakt zum Autor entstanden. Ich interessiere mich eben immer sehr für seine neuen Texte. Der Verlag weiß, dass wir uns für den Autor interessieren und Noah Haidle hat tatsächlich sofort zugestimmt und sich gefreut. Ich glaube, der wird viel mehr in Deutschland gespielt als in Amerika.Ich denke, diese Brechung, die er immer in den Stücken hat, diese unglaubliche Verrücktheit in den Texten, liegt in Amerika nicht so nah.

Keine Angst vor dem Stadttheater-Publikum in Oberhausen?

Überhaupt nicht!

Kissyface | 29.9. (P), 2., 8., 15., 22., 23., 28.10. | Theater Oberhausen (Studio) | 0208 857 81 84

Interview: Peter Ortmann

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