Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist ein Machtinstrument in Kriegen. Es könne sich als perfider erweisen als jede Zerstörung einer Stadt, sagt Kati Stüdemann, die Leiterin des Bildungswerk Vielfalt Dortmund und Moderatorin des Abends. Denn sexuelle Gewalt wirke über Generationen und durchdringe Denken, Fühlen und Beziehungen der Menschen. Es sei ein Thema, das noch immer nicht die nötige Aufmerksamkeit bekomme. Die Veranstaltungsreihe „Culture Connect“ im Haus der Vielfalt möchte anlässlich von 70 Jahren UN-Menschenrechtskonvention solchen vernachlässigten Fragen der Menschenrechte nachgehen.
Die Grünen-Politikerin Berivan Aymaz wurde 2017 in den Landtag NRW gewählt und stellt Asylpolitik, Integration und Frauenrechte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. An diesem Abend spricht sie über jesidische Frauen, die in die Gefangenschaft des Islamischen Staats in Syrien und Irak geraten sind. Es sei ein grausames Phänomen mit „hohem Verdrängungspotential“. In den folgenden 90 Minuten wird sie auch erklären, warum dieses Phänomen der Bevölkerung Deutschlands nicht gleichgültig sein darf.
6000 Jesidinnen, lauten die Schätzungen, hat der IS im Lauf seiner Gebietseroberungen gefangen genommen und als Sexsklavinnen missbraucht. Aus Sicht des IS handelt es sich bei Jesiden um Ungläubige, mit denen rücksichtslos zu verfahren ist. Die kurdisch sprechende Minderheit der Jesiden ist ursprünglich in Teilen des Iraks, Syriens und der Türkei ansässig. Sie folgt einem ethno-religiösen System, das Heiraten nur innerhalb einer Kaste erlaubt und insbesondere Intimität mit Muslimen untersagt. Aymaz führt ihre eigene kurdische Herkunft an und ihr Selbstverständnis als Muslimin mit feministischem Hintergrund. Sie betont, es gehe nicht darum, wie sie persönlich zu jenem Kastensystem stehe. Entscheidend sei, was es für die versklavten Frauen und für die jesidische Gemeinschaft bedeute. Denn die Tradition besage auch, dass eine Jesidin, die mit einem Muslim intimen Umgang hatte, aus der Gemeinschaft zu verstoßen sei. Die hohe Opferzahl bedeute, dass es kaum Familien gebe, die vom Schicksal der Frauen nicht selbst betroffen sind oder betroffenen Familien nahestehen, dass also die jesidische Gemeinschaft insgesamt betroffen sei – die sich entscheiden müsse, wie sie das eigene Frauenbild und das Leid der Frauen gegeneinander abwägt.
Der kurdischen Regionalregierung ist es gelungen, bis zu 4000 Frauen „zurückzukaufen“. Natürlich klingt das zynisch, fährt Aymaz fort, aber es sei die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu tun. Im Jahr 2015 startete das Land Baden-Württemberg, regiert von Aymaz‘ Parteifreund Winfried Kretschmann, ein Hilfsprogramm für die Frauen. Teams aus Dolmetschern, Pädagogen und Psychologen besuchten Flüchtlingscamps und suchten mit Hilfe lokaler Frauenverbände den Kontakt zu den Frauen – und nahmen einige mit nach Deutschland. Wieder und wieder. Insgesamt sind so über tausend aus der IS-Gefangenschaft befreite Jesidinnen hierher gekommen. Hier erfahren sie medizinische und psychologische Betreuung und Hilfe bei der Integration. Auf diese Weise fand auch die 1993 geborene Nadia Murad nach Deutschland, die im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis verliehen bekommen hat für ihren Einsatz für die Menschenrechte.
Wie Nadia Murad finden einige der Frauen die Kraft, auf offener Bühne von ihren Schicksalen zu erzählen. Angesichts der geschilderten Grausamkeiten, komme es vor, das Frauen und Männer im Publikum ohnmächtig werden, sagt Aymaz. 15-Jährige seien von Mann zu Mann gereicht worden, innerhalb des IS und in der Region, als wären sie Handelsware. Viele Frauen reagierten mit Suizidversuchen, Magersucht, völligem Verstummen oder allgemeiner Resignation auf das Erlittene.
Das Kollektivtrauma belaste besonders die Beziehung zu den Muslimen. Nicht nur, weil die IS-Terrormiliz sich selbst als islamisch versteht, sondern auch, weil Muslime, mit denen man Tür an Tür gelebt habe, nicht geholfen hätten als der IS kam. Die Verbrechen an den Jesiden durch den IS werden von den Vereinten Nationen als Völkermord verurteilt. Die Rede von Versöhnung dürfe gerade in dieser Lage nicht die Floskel bleiben, die sie aus dem Mund von Politikern oft sei, sagt Aymaz. Es müsse „ans Eingemachte gehen“. Das bedeute, dass der religiöse Dialog in Deutschland sich nicht zwischen „den großen Beiden“, Christentum und Islam, erschöpfen dürfe, sondern auch andere Gruppen einbeziehen müsse, neben den Jesiden beispielsweise auch die Aleviten. Sensibilität sei von allen zu fordern, denn Versöhnungskultur und -politik müsse der „Vielfalt der Gesellschaft“ gerecht werden, um eine Chance zu haben. Sie unterstreicht den Appell mit dem Hinweis, dass in Deutschland mittlerweile die größte jesidische Diaspora lebe. Schätzungen gehen von 100.000 Menschen aus.
Eine Frage steht längst im Raum als Aymaz auch darauf eingeht: Was geschieht mit den Kindern? Viele der Opfer sind mit ihren Kindern oder schwanger nach Deutschland gekommen. Es sind Kinder der Täter. Die Kinder dürfen zur Adoption freigegeben werden. Allerdings sei die anonyme Adoption hierzulande eigentlich nicht möglich, so Aymaz. Darum sei es noch offen, ob die Frauen damit rechnen müssen, dass eines Tages Kinder verlangen, ihre Mütter kennenzulernen. Die Erwartung, dass in Gestalt der Kinder gleichsam die Vergangenheit die Frauen einholen kann, stehe der Bewältigung der Traumata entgegen.
Auch Berlin und Brandenburg arbeiten an einem Hilfsprogramm für Jesidinnen nach dem Vorbild Baden-Württembergs, und Aymaz zeigt sich erfreut über ihre Gespräche mit NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP), dergleichen auch für NRW anzugehen.
Indes beobachtet sie möglicherweise einen Wandel in der jesidischen Gemeinschaft. Bei internationalen öffentlichen Auftritten der ehemaligen Sexsklavinnen richte sich nun der Ruf „Ihr seid unser Stolz“ direkt an die Frauen. Bedeute das, dass die jesidische Gemeinschaft das Schicksal der Frauen nicht zum Anlass nimmt, sie zu verstoßen, sondern sie im Gegenteil zu ehren und ihnen beizustehen, fragt Aymaz. Wandele sich der Ehrbegriff?
Eine Frau im Publikum merkt an, dass dieser Zusammenhalt schlicht notwendig sei zur Selbsterhaltung der Gemeinschaft. Aymaz stimmt zu, nennt es aber auch bemerkenswert, dass sowohl die jesidische Gemeinschaft als auch die kurdische Regionalregierung sich konstruktiv im Umgang mit den Geschehnissen zeigen. Trotzdem bleibe entscheidend, welchen Status die Jesidinnen haben, wenn der Krieg einmal vorüber sein wird. Für ein normales Leben sei eine Heroisierung oder Romantisierung ihres Schicksals nicht hilfreich.
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