Diskussionen um den Niedergang des Klassikpublikums flammen immer wieder auf, das Jammern um die fehlende musikalische Ausbildung der heutigen Jugend ist groß, verschiedene plakative und repräsentative Aktionen von politischen Parteien und von Musik-Vermarktern wurden gestartet. Bei einer Podiumsdiskussion zur sinkenden Einschaltquote im Live-Geschäft muss zunächst – man staune – realisiert werden, ob die Behauptung, das Klassikpublikum sterbe weg und wüchse nicht nach, überhaupt zutrifft. Auf der einen Seite stehen sinkende Besucherzahlen und die empirische Wahrnehmung der Kritiker, in schlecht gefüllten Konzertsälen zu sitzen, auf der anderen Seite reden manche Macher die Krise einfach weg und verweisen auf subjektive Erfolgsmeldungen und neue, tatsächlich heiß begehrte Formate wie die in Köln praktizierten Mittagshäppchenkonzerte, wo ein halbstündiges Konzert bei freiem Eintritt als Appetizer für den kommenden Abendtermin gereicht wird. Hinter dem vehementen Einlenken der Musikschaffenden lauert allerdings eine simple soziologische Strategie: In keinem Falle darf die Branche eine Krise selbst herbeireden. Die Angst vor der „self fulfilling prophecy“ sorgt ja auch bei Banken dafür, dass sie ganz plötzlich total pleite sind. Soweit sind wir aber in der Klassik noch nicht. Ein anderes Argument eines Konzertveranstalters kam sehr überraschend und betraf den nun dräuenden Sommer: Das Publikum kommt nicht mehr nach den Ferien aus einer wohlverdienten Kulturpause, sondern aus einem Kulturstress pur. Die Breite und Dichte der Festivalkultur – und das gilt eigentlich ganzjährig und ist nur durch die Wetterlage bedingt ein betontes Sommerspektakel – hat sich potenziert. Hunderte von Festivals locken mit originalen Schauplätzen, lauschiger historischer Architektur und programmatischen Schmeichelpackungen. Das Event wird immer beliebter, die Kombinationen von Landschaft und Klängen, Natur und Lyrik oder Feuerwerk und Musik erreichen relativ problemlos Sinne und Geldbörse der Kulturfreunde. Ein kleines Beispiel: Bei den Seefestspielen Mörbisch am Neusiedlersee kamen in knapp zwei Monaten annähernd zweihunderttausend Besucher, auch, weil Schlagersänger Rainhard Fendrich im „Weißen Rössl“ in Peter Alexanders Paraderolle als Oberkellner auftrat. Das klingt ein wenig ekelig, aber die Leut‘, sie lieben es halt. Oder Tatort Seebühne Bregenz: Die lockte sogar für eine Szene die Crew für einen James Bond- Agentenstreifen an den Bodensee, um die Werbetrommel zu rühren für die Wasseroper. 200.000 Opfer jährlich erliegen auch dieser Verführung für die Augen, weniger fürs Ohr. Eine Behauptung: Der normale Konzertbetrieb hat jahrelang am Publikum vorbei produziert. Programmplaner sonnen sich in Intendantenrunden im Glanze möglichst hoher publikumsfrei verschossener anspruchs- und deshalb ehrenvoller Ausgaben. Die Presse goutiert dies, weil sie ja die wirtschaftliche Seite nicht zu interessieren hat und die Inhalte stimmen. Es ist auch hier wie bei den Banken: Künstlerische Leiter werden ausgezeichnet und gelobt für Programme, die allerdings kaum jemand erleben wollte. Das Publikum flieht trotz horrender Preise in die Eventkultur – die manchmal auch kulturell sehr viel zu bieten hat. Festspiele essen Tageskultur auf.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Das Netz der Menschenliebe
Joan As Police Woman auf dem Haldern Pop Festival – Musik 07/25
Nicht nur für Orgelfans
16. Wuppertaler Musiksommer in der Historischen Stadthalle – Musik 07/25
Klänge der Gegenwart
Konzertreihe mex im Künstlerhaus Dortmund – Musik 07/25
„Jüdische Musik in der Region verankern“
Die Leiterin der Alten Synagoge Essen, Diana Matut, zum Festival jüdischer Musik Tikwah – Interview 07/25
Impossible Dortmund
Wilco im Dortmunder JunkYard – Musik 06/25
Gegen die Stille
Das 54. Moers-Festival – Musik 06/25
Magische Momente
Cat Power im Düsseldorfer Capitol Theater – Musik 06/25
Eine große Ausnahme
Der Pianist Alexandre Kantorow in Wuppertal – Musik 06/25
Lieber ins Meer springen
Slow Leaves im Düsseldorfer Zakk – Musik 05/25
Landlocked Dortmund
Richard Thompson im Dortmunder Piano – Musik 05/25
Entgegen der Erwartung
4. stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen – Festival 04/25
Danke für alles!
Oysterband in der Bochumer Zeche – Musik 03/25
Tanzen, Schwitzen, Lächeln
Ina Forsman im Dortmunder Musiktheater Piano – Musik 03/25
Herz bricht Klischees
Krazy und Karl Neukauf im Dortmunder Subrosa – Musik 02/25
Große Stars und die nächste Generation
Zum Programm des Klavierfestivals Ruhr – Festival 02/25
Poesie im Alltäglichen
International Music in Dortmund – Musik 01/25
Hommage an Nino Rota
Kazda & Indigo Strings im Loch – Musik 01/25
Das blaue Licht in Bochums Norden
Otto Groote Ensemble im Bochumer Kulturrat – Musik 12/24
Schummerlicht und Glitzerhimmel
Suzan Köcher's Suprafon in der Bochumer Goldkante – Musik 12/24
Pessimistische Gewürzmädchen
Maustetytöt im Düsseldorfer Zakk – Musik 11/24
Komm, süßer Tod
„Fauré Requiem“ in der Historischen Stadthalle Wuppertal – Musik 11/24
Konfettiregen statt Trauerflor
Sum41 feiern Jubiläum und Abschied in Dortmund – Musik 11/24
Erste Regel: Kein Arschloch sein
Frank Turner & The Sleeping Souls in Oberhausen – Musik 10/24
Eine ganz eigene Kunstform
Bob Dylan in der Düsseldorfer Mitsubishi Electric Halle – Musik 10/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Matrix Bochum – Musik 10/24