Endlich wissen, wo es langgeht
Non, je ne regrette rien. Leise tönt Edith Piaf aus dem Radio. Die Gedanken schweifen zurück. Ja, das waren stille Tage in Paris. Ohne Hektik, ohne Handy. Ohne Rasierapparat. Bummeln an der Seine, Latte im Café. Ein wenig Stöbern auf dem Flohmarkt. Hier herrscht noch der traditionelle Marktbetrieb. Handeln um des Handelns willen. Ohne Preisbindung, aber mit Feilschen in Maßen, hier ist ja schließlich das alte Europa. Ein kleines antikes Schränkchen wird zum Objekt der Begierde. Ach, nur 4.000 Euro? Wir kommen darauf zurück – im nächsten Leben. Auch ohne Einbindung in multinationale Konzerne wurde der basisdemokratische Kapitalismus fast zu einem halben Wirtschaftszweig zu einer ausgearteten Lebenshaltung, die seit über einhundert Jahren den Kreislauf eigentlich überflüssig gewordener gebrauchter Gegenstände sicherstellt. Überall auf Märkten, Plätzen, in Gassen und Hallen suchten Menschen, die eigentlich alles haben, verzweifelt nach Dingen, die andere schon lange nicht mehr wollten, die aber den immerwährenden Reiz des Gebrauchten und den besonderen Kitzel des möglicherweise wiedergefundenen Schatzes in sich trugen. Beispielsweise Pablo Neruda (ein chilenischer Dichter) kaufte auf dem Pariser Flohmarkt, was ihm gefiel, meist Glasobjekte und maritimes Zeug, obwohl er nie zur See fahren konnte, und schaffte es in sein zweites Domizil auf der Isla Negra. Er konnte sich das natürlich leisten, der Geldsack.
Ausgerechnet als ich gerade in träumerischen Gedanken noch im französischen Spätherbst schwelgte, erreicht mich am Radio diese Nachricht. Die Kulturhauptstadt macht Schlussverkauf. Drei Tage lang bieten die Veranstalter auf einem Flohmarkt Überbleibsel der zahlreichen Kulturveranstaltungen an. Unter anderem können Regenponchos, Warnwesten, Hinweisschilder und Souvenirs auf Zollverein günstig gekauft werden. Das Pariser Flair in meinen Zellen zerplatzt als schimmernde Seifenblase. Bilder tauchten auf: Massen schreiender Menschen drängen sich vor dem geschlossenen Tor des Essener Weltkulturerbes. Zerren um die besten Startplätze. Dann öffnet sich knarrend die metallene Pforte. Aufstoßen, schubsen, rennen. Die Ordner können gerade noch beiseite springen. Gierig stürzen sich die Schnäppchenjäger auf die prall gefüllten Tische, zerren an den Warnwesten, reißen sich gegenseitig die raren Hinweisschilder aus den bereits blutenden Händen. Kinder schreien nach ihren Eltern. Frauen kreischen um die Wette. Einige Männer haben sich bereits die kostbaren Regenponchos gesichert und versuchen nun, halbwegs unverletzt die Kassen zu erreichen, während sich leer ausgegangene an ihrer Kleidung festkrallen, um vielleicht doch noch das eine oder andere mit Gewalt zu erbeuten, bevor es zu spät ist, bevor der Ausverkauf vorüber ist, die Kulturhauptstadt endgültig Geschichte, wieder Ruhe einkehrt auf dem Gelände, auswärtige Besucher kopfschüttelnd ihren Rundgang über die ehemalige Zeche fortsetzen, die Kinder Zeit für ein Bütterchen finden, die Mütter wieder schnattern und die Männer noch schnell eine Zigarette genießen. Ruhe, Frieden. Im Radio besingt Herbert Grönemeyer die Currywurst. Ich kriege Appetit auf ein Croissant.
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