Mitte November zieht es wieder Macher, Darsteller und vor allem Fans des deutschsprachigen Films in die pittoreske Innenstadt Lünens. Das dortige Kinofest bietet auch in seiner 21. Auflage die reizvolle Spannung zwischen Rotem Teppich und kreativer Nachwuchsarbeit. Vielfalt ist alles, aber die Einheit macht sie erst sichtbar. So demonstriert das mit 61 deutschsprachigen Filmen voll gespickte Festivalprogramm, das vom 11. bis 14. November in der nordöstlichen Ruhrstadt zu sehen ist, einen großen Umfang an filmischen Formaten. Neben Kurz-, Animations-, Dokumentar- und Spielfilmen sind mit den „Extra“-Wettbewerben auch neue Filmreihen dabei. Unter dem Titel „Eine Welt“ rücken Filme über Afrika in den Vordergrund. „Extrem stark“ portraitiert charakterlich eindrucksvolle und mutige Individuen, während die Reihe „Extrem nah“ untypische Geschichten aus dem Ruhrgebiet erzählt. Rockabillies und koreanische Kumpels ersetzen hier Fußballer und Taubenzüchter.
Punks, Balletttänzer und das älteste Gewerbe
Wie jedes Jahr steht aber die Lüdia im Mittelpunkt. Unter dem Bewerberfeld für den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis versammelt sich stets eine gesunde Mischung aus Dokumentar- und Spielfilmen. Besonders aber die Dokumentarbeiträge weisen diesmal einen Hang zu Protagonisten mit existentiellen Lebensentwürfen auf. In „Adrians Traum“ verfolgt Regisseur Manuel Feen acht Jahre lang einen Jungen in seinem Traum, Balletttänzer zu werden. Der Vater des Jungen findet sich in ihm erst nicht wieder, meidet aber daraufhin nicht die Nähe zu seinem Sohn, sondern begleitet ihn auf dem ehrgeizigen Weg. Kein Billy Elliot-Abklatsch, aber ein witzig-sensibles Familienportrait. Sensibel sind auch die Beziehungen im ältesten Gewerbe der Welt. Saara Ali Waasners „Frauenzimmer“ begleitet drei Prostituierte, die ihren Alltag zwischen Freier und Freizeit mit an beruflichem Ethos grenzender Selbstverständlichkeit vorleben. Punks und obdachlose Jugendliche leben ebenso, jedoch öffentlicher, das Jenseits der Norm aus. Am „typisch-asozial“-Klischee will Maria Speth („Madonnen“) mit ihrem Dokumentarfilm-Debüt „9 Leben“ rütteln.
Im Strudel der Identitätssuche
Menschen in akuter Selbstfindungsphase scheint das Leitthema der Spielfilmbeiträge im Wettbewerb um die Lüdia zu sein. Pia Marais lässt in „Im Alter von Ellen“ eine von ihrem Freund verlassene Stewardess kurz vor dem Start aus dem Flieger rennen. Die Sollbruchstelle vollzieht sich hier direkt am Arbeitsplatz und öffnet zwangsläufig den Weg in ein anderes Leben. Nicht neben dem, aber auch nicht mitten im Leben stehen die drei Charaktere in „Morgen das Leben“. Jochen schleppt Gemüsekisten, Judith bastelt und quatscht Kunden am Telefon mit den immer gleichen Call Center-Sätzen voll, während Ulrike den Beruf wechselt und zusehen muss, wie mit ihrem Freund auch ihr Mobiliar verschwindet. Alle drei versuchen dabei, aus ihrem Ich-Kosmos in die soziale Umwelt hineinzutauchen, um dort das vermisste Glück zu finden. Man sieht sie hoffend, verängstigt, verunsichert und von Erinnerungen heimgesucht, bis man sich fragt, wie viel im Jetzt geopfert werden muss, um morgen jenes Leben zu verwirklichen. Dokumentarfilmartige, schlichte Einstellungen, dezent gesetzte Dialoge und präzise Gesten realisieren die Spannung aus Anonymität und gesuchter Selbstbestätigung. Ein großartiges Spielfilmdebüt von Alexander Riedel. Von der Anonymität ist es nicht weit zum Identitätsverlust. Diesen erfährt die 31jährige Maria (Foto) in Florian Cossens „Das Lied in mir“ gleich zweimal. Zunächst hört sie auf dem Flughafen in Buenos Aires ein Kinderlied, das sie emotional überwältigt und ihren Anschluss nach Chile verpassen lässt. Bei dem Zwischenstopp wird ihr Reisepass geklaut. Der Aufenthalt in der argentinischen Hauptstadt ereignet sich zur langen Reise in die Vergangenheit. Ihr Vater reist aus Deutschland nach und will sie so schnell wie möglich nach Chile bringen. Mit den Erinnerungen an das Lied konfrontiert gesteht er ihr, dass sie adoptiert wurde und ihre leiblichen Eltern während der Militärdiktatur 1980 ermordet wurden. Maria macht sich auf den Weg nach ihrer verlorene Familie. Der Film des israelischen Regisseurs Florian Cossen beeindruckt durch die feine Dosierung des dramatischen Stoffes, eingepackt in einem intelligenten Plot. Mit Jessica Schwarz als Maria und Michael Gwisdek als ihrem Vater fand Cossen auch zwei Darsteller, die seinen Figuren keine falsche Theatralik zumuten.
Zehn Jahre Berndt Media-Preis
Filme, die um die Lüdia konkurrieren, nehmen noch in vier weiteren Kategorien teil: Neben dem Preis der Schüler-Jury werden auch die beste Filmmusik und erstmals das beste Drehbuch ausgezeichnet. Zum zehnten Mal darf sich diesmal ein Film aufgrund seines Titels rühmen. Ob poetisch, witzig oder widersprüchlich – Titel sind wichtige Instrumente für die Vermarktung von Filmen und Aufmerksamkeitsgeneratoren beim Publikum – vor allem für den Filmnachwuchs. Seit 2001 stiftet der Berndt Media-Verlag den mit 5.000 Euro dotierten Preis. Seine bisherigen Gewinner waren die folgenden.
2009: Mensch Kotschie (Norbert Baumgarten)
2008: Evet, ich will! (Sinan Akkus)
2007: Der Weiße mit dem Schwarzbrot (Jonas Grosch)
2006: Die Unzerbrechlichen (Dominik Wessely)
2005: Urlaub vom Leben (Neele Lena Vollmer)
2004: Aus der Tiefe des Raumes (Gil Mehmert)
2003: Schussangst (Dito Tsintsadze)
2002: Ein Leben lang kurze Hosen tragen (Kai S. Pieck)
2001: Was tun, wenn’s brennt? (Gregor Schnitzler)
Kinofest Lünen | 11.-14.11. | Cineworld Lünen, Im Hagen 3 | www.kinofest-luenen.de
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