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Autorin Anja Liedtke
Foto: Thomas Aigner

Ich seh’ den Sternenhimmel

30. Oktober 2012

Anja Liedtke geht in ihrem neuen Roman weltpolitischen Problemstellungen nach – Literatur Portrait 11/12

„Grün Gelb Rot“ – so hieß der „Heimatroman“, mit dem die Bochumer Autorin Anja Liedtke vor zwölf Jahren debütierte. Der Jugendroman führt mit viel Lokalkolorit in die Ruhrwiesen und wirft einen sozialkritischen Blick hinter Ruhrgebietsklischees und grundsätzliche Fragen des Erwachsenwerdens. Mit einem neuen Roman hat sich die Autorin allerdings Zeit gelassen. Dabei leitet sie seit einigen Jahren Kurse für Kreatives Schreiben, aktuell an der VHS Bochum; außerdem ist sie als Mitglied der Bochumer Literaten Gast zahlreicher Lesungen. Mit ihrem neuen Roman löst sich Anja Liedtke nicht nur örtlich vom Schauplatz Ruhrgebiet, sondern wendet sich weltpolitischen Zusammenhängen zu. Als „Buch zur Wirtschaftskrise“ beschreibt der Verlag die Geschichte einer Reporterin auf den Spuren alternativer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle.

Global denken – und schreiben
Nicht übersehen sollte man dabei, dass die Autorin bereits 1996 den Bettina-von-Arnim-Literaturpreis für eine Reisegeschichte erhielt, den Blick über den Tellerrand also früh geübt hat: „Meine Shanghai-Geschichte war sicher der Auslöser, Reiseschriftstellerei in unterschiedlichen Formen zu probieren, ja. Aber global zu denken kam schon früher aus meinem Inneren. In Schule, Uni, Medien und durch Reisen erfuhren wir doch von Menschen und Kulturen rund um den Globus. Von „Onkel Toms Hütte über „Die Farbe Lila“, über Nicaragua, die Naturvölker im Amazonas, die Inkas in Mexiko – da bin ich selbst gewesen – , mein Vater erzählte von seinen Israel- und Japan-Reisen, meine Generation war von der Rockmusik aus den USA und GB geprägt usw. Und oft stellte ich mir all diese ungeheuer vielen verschiedenen Menschen auf einem einzigen Planeten vor. Alle zusammen, verstehst du?“

Anja Liedtke ist jedoch alles andere als eine Theoretikerin. Sie war bei der Gründung der Lokalen Agenda 21 dabei und saß zwei Jahre im Beirat der Agenda 21 der Stadt Bochum. Ihr hohes politisches Engagement und ihr gewissenhafter Umgang mit dem Thema ihres Romans spiegeln sich auch darin, dass Hermann Scheer, Träger des alternativen Nobelpreises, in den Entstehungsprozess eingebunden war. Diese Kooperation liegt der Autorin sehr am Herzen: „Hermann Scheers Buch über die Energiewende ist die einzige moderne Vision einer zukünftigen Gesellschaft in meiner Zeit. Und diese Vision ist gut und schließt niemanden aus. Verlierer sind höchstens die Energie-Großkonzerne.“ Auf einem inhaltlich ernüchternden SPD-Parteitag lernte sie ihn persönlich kennen: „Bis zum nächsten Parteitag hatte Hermann mein Manuskript gelesen und kommentiert. Ihn störte die breite Thematik, er hätte am liebsten eine Konzentration auf die erneuerbaren Energien, aber das wollte ich nicht.“ Das fertige Buch hat Scheer leider nicht mehr zu lesen bekommen, er starb im Oktober 2010 – und Liedtke macht dafür die Ignoranz ihrer Partei mitverantwortlich: „Als Hermann starb, tat mir das so weh, als wäre ein Familienmitglied gestorben. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich war so wütend auf diese Partei, die seiner Gesundheit so abträglich gewesen war. Er hatte immer bei mir Zigaretten geschnorrt, der Arzt hatte ihm das Rauchen schon verboten, und im Café Silberstein mahnte ihn die Kellnerin, er dürfe doch kein Eis essen.“

In Israel
Kurz vor ihrem Roman veröffentlicht Anja Liedtke gemeinsam mit Meir Schwarz das jüdisch-deutsche Wörterbuch „So sagt man halt bei uns“. Die Idee hierzu reifte in Israel: „Ich habe ein halbes Jahr in Israel im Beit Ashkenaz gearbeitet. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste hat mir die Stelle vermittelt. Das private Institut wird von Meir Schwarz geleitet. Er hat es nach seiner Pension gegründet, um ein Jahr lang die Geschichte der Synagogen in Deutschland, die in der Pogromnacht zerstört worden waren, zu erforschen. Doch stellte er fest, dass es nicht, wie Goebbels angegeben hatte, etwa 300 waren, sondern fast 2000. Aus dem einen Jahr sind also viele geworden. Jeden Morgen kam Schwarz zu mir ins Büro und erzählte mir von seinem Leben und auch über seine Projekte, seine Pläne. Unter anderem zeigte er mir eine handgeschriebene Wortliste jüdischdeutscher Ausdrücke und fragte mich, ob ich daraus nicht einen Artikel machen könnte für eine jüdische Zeitschrift. Nein, habe ich gesagt, das kann und will ich nicht. Das ist Stoff für ein Buch. Er war gar nicht so begeistert, weil er ein ganzes Buch kaum noch lesen kann. Das Durcharbeiten der Liste mit ihm zusammen war sehr anstrengend.“

Revolution und Minirock
Auf die erotische Ebene ihres Schreibens angesprochen, relativiert Liedtke: „Bei dem Roman handelt es sich eher um eine unglückliche Liebesgeschichte oder um mehrere; denn der innere Konflikt der Protagonistin lässt sie nicht fähig werden, zu warten, auszuwählen und die Männer erst zu prüfen, bevor sie sich ihrem eigenen Liebeszwang überlässt.“ Anja Liedtke möchte auch nicht vorgeblichen Trends hinterherlaufen: „Ob das Thema (Erotik – Anm. des Verf.) boomt, weiß ich nicht zu sagen. Danach könnte ich nie meine Themen auswählen. Ich muss schreiben, was mir anders nicht aus dem Kopf geht. Ich finde es schade, dass es beim Frauenbild eine Rückentwicklung gibt und die Mädels heute so leichtfertig aufgeben, wofür ein paar Generationen von Frauen so mühselig gekämpft haben. Wie diese Mädels sich demütigen und entwürdigen lassen bei Casting-Shows, da könnt ich in den Fernseher treten. Und in Gesellschaft von Palästinensern ist mir aufgefallen, dass die jungen deutschen Freiwilligen nicht wussten, was sie antworten sollten, als die Palis sie gefragt haben, warum man denn bei uns so viel Angst vor dem Islam habe und was wir denn schon mit unserer Freiheit angefangen hätten. Stell dir vor, ein junger Mitbewohner in Jerusalem sah mich an, ich sollte die Frage beantworten. Ich redete daraufhin von Werten der französischen Revolution, der Revolution von 1919, unserem Grundgesetz, der Emanzipation. Und kam mir doof dabei vor. Deswegen sagte ich hinterher: ‚Ach, sieh’ mich doch einfach an.‘ Und ich schaute selbst auf meine nackten Arme, Beine, Haare, meinen Minirock und das Shirt ohne BH drunter. ‚Deswegen habe ich Angst vor dem Islam und das mache ich mit meiner Freiheit.‘“

Und die Heimat?
Ob Anja Liedtke sich noch einmal literarisch auf das Ruhrgebiet zurückbesinnen wird, kann sie derzeit nicht sagen. Vorerst ist für das kommende Frühjahr die Veröffentlichung ihres Romans "Die Hochstapler von Beverly Hills" oder "Reise durch amerikanische Betten" (Arbeitstitel) im Projekt-Verlag geplant.Nicht nur als literarisches Sujet, auch als Ort literarischen Lebens lässt das Revier in den Augen der Autorin zu wünschen übrig: „Ich vermisse so eine Szene wie in Berlin, falls die wirklich so ist, wie ich sie mir vorstelle. Ich komme mir selbst so provinziell vor und denke, die sind irgendwie innovativer, experimenteller, niveauvoller. Aber eigentlich weiß ich das nicht so genau. Ich schließe vielleicht von den Ausstellungen der bildenden Kunst auf die Literatur. Sicher muss der Ruhrpott seinen eigenen Weg finden. Aber da fehlt zum Beispiel der Autor, der das Ruhrgebiet darstellt wie es jetzt ist, und nicht die Klischees der Sprache und der Typen aufwärmt. In den letzten Jahrzehnten hat es einen so großen Wandel gegeben. Allerdings kriegte ich den auch nicht zu fassen, erhebe mich folglich nicht über die Kollegen. Klaus Märkert macht das vielleicht mit am besten.“

Anja Liedtke:Stern über Europa IAsso-Verlag I 251 Seiten, 19,90 Euro

Anja Liedtke und Meir Schwarz:So sagt man halt bei uns (kleines jüdischdeutsches Wörterbuch)I Projekt-Verlag I 134 Seiten, 14,80 Euro

FRANK SCHORNECK

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