Was für ein Titel, was für eine Platte: Schorsch Kamerun hat mit „Der Mensch lässt nach“ seine Theaterarbeit und seine Musikarbeit vollkommen ineinander aufgehen lassen. Die Texte zur Gesinnungslage der Nation sind in ein extrem luftiges Korsett von Neuer Musik und neuer Elektronik eingefasst. Im Gestus dockt er damit an 70er Jahre Prog-Rock im Sinne von Henry Cow an, steht aber trotzdem im Hier und Jetzt. Großartige, wunderschöne Platte (Buback). Die eklektizistischen Camper van Beethoven gab es von 1983 bis 1990, im Jahr 2004 tat man sich dann wieder zusammen. „La Costa Perdida“ ist ihr zweites Album seit der Wiedervereinigung, und es ist alles andere als ein Alte-Herren-Werk. Alternative-Country, Polka und Ska, die Fidel und melancholische Melodien mit feinen Disharmonien – die klassischen Qualitäten der Band finden hier in neuer Frische zusammen (429 Records). Mit „What the Brothers sang“ verbeugen sich Dawn McCarthy & Bonnie „Prince“ Billy vor dem Werk der Everly Brothers. Natürlich graben sie die unbekannteren Schätze aus – mit „So sad“ covern sie nur einen Top Ten-Hit. Die Country-betonten Stücke sind sehr schön und gefühlvoll. Nur wenn es rockiger wird, klingen sie nach fiesem Muckertum (Domino). Die Ducktails docken mit ihrem luftig-leichten Dreampop an 80er Jahre Indie-Pop an – mal gefährlich seicht, mal wunderbar entspannt und mitunter auch mitreißend. Die glasklare Gitarre erinnert an Tom Verlaine, ein paar Hakenschläge sorgen für Wachsamkeit (Domino).
Hätte Cpt. Beefheart Electro gemacht, vielleicht klänge er ein wenig nach Lump200s „Hobbies & Religions“. Tom Waits und Funkstörung sind auch nicht weit. Da quietscht und rumpelt es in elektroider Sperrigkeit, ein Saxophon verkeilt sich, und trotzdem rollt das Ganze bassintensiv unaufhörlich weiter und gibt den verschrobenen Lyrics eine solide Basis (Lump200). Darkstar sind mit ihrem zweiten Album „News from Nowhere“ bei Post-Post Dubstep angekommen. Soll heißen: Ihre vernebelten Popsongs haben mit ihrer Vergangenheit als Dubstep-Produzenten nichts mehr zu tun und erinnern eher an Dream Pop oder elektronische Beach Boys – was tatsächlich sehr schön klingt (Warp). Die Kompakt-Brüder Wolfgang und Reinhard Voigt gehen das Jahr brüderlich an: Voigt & Voigt veröffentlichen mit „Die Zauberhafte Welt der Anderen“ ein zwar Beat-unterlegtes, aber experimentell-verrauschtes Geräuschepanoptikum. Mit der CD „Erdingertrax“ sammeln sie ihre gleichnamige, minimalistisch-technoide Maxireihe zusammen. Aber auch die ist alles andere als Brettertechno, sondern von Schönklang geprägt (beide Kompakt).
In den 80er- und frühe 90er Jahren entwickelte die Mainzer Eperimentalgruppe P16D4 kommend vom Postpunk – Industrial und NDW – eine eigene, von szenetypischen Schockelementen befreite Geräuschmusik. Einerseits an der Musique Concrète – also akademisch, andererseits an den Prinzipien des Materialrecyclings orientiert entwarfen sie eine Musik zwischen Noise und Elektronik, die in Deutschland am ehesten mit der Musik von Die Tödliche Doris vergleichbar ist und internationale Bedeutung erlangte. Die dahinter stehende Anti-Pop-Haltung ist zwar nicht unbedingt sympathisch, die Ergebnisse aber nicht weniger faszinierend und mitunter sogar schön. Die aufwändige Box „Passagen“ enthält mit sechs CDs ihr gesamtes Hauptwerk, eine DVD wirft einen Blick auf die Improvisationstechniken im Studio und auf der Bühne. Die Box enthält außerdem ein umfangreiches Booklet(Selektion).
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