So einfach wie in den 90ern wird es nie wieder: Als Deutschland dem Kyoto-Protokoll beitrat, war die zugesicherte Reduzierung von Treibhausgasen (21 Prozent gegenüber 1990) fast nur noch Formsache. Den größten Teil der verlangten Einsparung hatte man längst durch das De-Industrialisieren der fünf neuen Bundesländer „geschafft“. Doch jetzt werden die Ziele anspruchsvoller. Minus 40 Prozent bis 2020, minus 70 Prozent gar bis 2040 hat sich die Bundesregierung offiziell als Wegemarken gesetzt. In der Wirklichkeit steigen die Emissionen aber seit vier Jahren wieder an, wie es das Umweltbundesamt auf seinen Webseiten ausweist.
Was also tun? Die Debatte um Ablösung fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien hat unter solchen Gesichtspunkten weiterhin Konjunktur, kann aber die drängendsten Fragen nicht allein beantworten. Zwar wird Strom aus Wind, Sonne und Wasserkraft schnell günstiger. Aber: Wer – außer Eigner von Uralt-Nachtspeicherblöcken und neuerdings jenen mit Wärmepumpen – heizt schon mit Strom? Dabei fällt im Gebäudebereich seit Jahrzehnten der größte energetische Einzelposten an: 40 Prozent des Gesamtaufkommens verballern die Deutschen, um es in Heim und Büro hell und vor allem warm zu haben.
Eigentlich eine riesige Einsparquelle, die seit Jahren von Regierung und Bauhandwerkern gleichermaßen beworben wird. „Gebäudedämmung“ heißt das gültige Zauberwort – das man allerdings inzwischen da und dort als Allheilmittel in Frage stellt. Die FAZ veröffentlichte im Mai eine nette Stoffsammlung gegen die „flächendeckende Vermummung“ von Häusern: Styropor-Außendämmung könne a) abbrennen, b) von Kindern und Spechten beschädigt werden, sorge c) für Schimmelgefahr im Haus und erziele d) nur im seltenen Fall die erhoffte Wirtschaftlichkeit. Außerdem sei sie bei ansehnlich gestalteten (und womöglich denkmalgeschützten) Fassaden ohnehin ein „No-Go“.
„Die Kritik am Dämmen ist wie ein Pendel. Die Frage ist, ob es für alle Situationen und alle Gebäude gilt“, relativiert Prof. Viktor Grinewitschus von der Hochschule Ruhr-West in Bottrop. Und liefert gleich seine Antwort: „Wenn man ein Haus mit einer funktionierenden Fassade dämmt, ist es eigentlich immer unwirtschaftlich. Das war 1991 so – und daran hat sich nicht viel geändert.“ Mit seinem Team arbeitet Grinewitschus gleichermaßen im Kontext der „Innovation City Ruhr“ wie auch des „SusLab.eu“, das für „Sustainable Laboratory“ steht. Nachhaltige Gebäudewirtschaft ist ein wesentlicher Forschungsaspekt zwischen London, Rotterdam, Bottrop und Göteborg und soll hier „vorzugsweise niedrig-investive Maßnahmen zur Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz im Gebäude“ entwickeln. Denn: „Einer muss das bezahlen – die Gesellschaft, der Mieter, der Steuerzahler. Und wir müssen aufpassen, dass man nicht die bezahlbaren Wohnungen wegmodernisiert.“ Vorher hat er übrigens das Duisburger InHaus-Zentrum des Fraunhofer-Instituts aufgebaut – will heißen: Der Mann verfügt über 20 Jahre einschlägige Erfahrung.
Wie Energieersparnis auch mit billigen, aber wirksamen Methoden funktioniert, will der Lehrbeauftragte für „Technische Gebäudeausrüstung“ an der Emscher demonstrieren. Vernetzte Haus-IT enthält beispielsweise der kleine Seefracht-Container, in den sich die Forscher eingenistet haben. Die misst den CO2-Gehalt in der Raumluft und öffnet bei Bedarf kurz die Fenster – worauf die Heizung pausiert. Auch diese wird per Tablet oder Smartphone-App auf die Anwesenheit der „Bewohner“ abgestimmt. Oder auf den Umstand, ob sie wachen oder schlafen. Ist doch eine Selbstverständlichkeit für die Heizungssteuerung – oder? Leider nein, sagt Grinewitschus: „Viele der 100 Gebäude, die wir in Bottrop vermessen haben, verfügen nicht einmal über eine Nachtabsenkung.“ Oder wenn der Schornsteinfeger Wärmeverluste zwischen drei und acht Prozent feststelle: „Beides liegt im Rahmen – aber die fünf Prozent Differenz machen auch was aus.“
Viele kleine Möglichkeiten ergeben einen größeren Brocken, ist die zentrale These. Vor allem, wenn man die Technik (und das Bewohnerverhalten) in einem Mehrfamilienhaus anpackt. Das sei zwar nicht einfach. Bei einem aufmerksamen Mieter werde auch mit „Home Automation“ nicht viel zu optimieren sein, ist Grinewitschus überzeugt: „Aber die Realität sieht anders aus. Bei den Verschwendern ist noch viel zu holen.“ Und das mit relativ geringem Aufwand. Im Bottroper Projekt werden hauptsächlich Komponenten eingesetzt, die wenige hundert Euro kosten. Manche brauchen bloß zwei bis drei Jahre, um sich zu rentieren.
„Home Automation“ – vielleicht liegt hier der Ansatz für viele Alt-Gebäude. Übrigens durchaus kombinierbar mit klugen Dämm-Maßnahmen, die erschwinglich sind und die Mieten nicht hochtreiben. „Am Abend, nachdem der Handwerker schon einen Teil der Kellerdecke isoliert hatte, bin ich auf Socken durch die Wohnung gelaufen“, berichtete meine Erdgeschoss-Nachbarin vergnügt im vorletzten kalten Winter. „Und weißt Du was? Ich habe den Unterschied zwischen den Räumen sofort gemerkt.“
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