Jürgen Friedrich Mahrts Sammelleidenschaft war obsessiv: Er beobachtete, präparierte und fotografierte Vögel, Nester und Insekten seiner Region, drapierte ausgestopfte Tiere für die Kamera sowie in Dioramen und wurde so zum Konservator der Fauna, Flora und der ökologischen Umbrüche seiner Zeit. Sönje Storm, Mahrts Urenkelin, lässt uns in „Die toten Vögel sind oben“ an der Bergung von 350 ausgestopften Vögeln und 3000 Schmetterlingen teilhaben, die lange auf dem Dachboden verstaubten. Die Faszination der Zoologen, die Doppelschnepfen und Widerhopfe begutachten oder Kunsthistoriker:innen, die tausende, handkolorierte Fotos katalogisieren, steckt an. Nebenbei zeichnet Storm das Porträt eines unangepassten Mannes, der von seiner familiär vorbestimmten Berufslaufbahn abbog und tat, was er liebte, ohne sich zu rechtfertigen.
In Ira Sachs neustem Film „Passages“ dreht sich alles um seine Hauptfigur Tomas. Tomas, gespielt von Franz Rogowski, ist narzisstisch, kann nicht gut kommunizieren und bewegt sich immer in das Bett, das ihm am meisten Wärme gibt. Und so bekommen wir die Verletzung seines Ehemanns Martin (Ben Whishaw) und seiner neuen Partnerin nur passiv mit, können sie erahnen, aber nie ganz fühlen. Wir sind wie Martin, der im Morgenmantel verwirrt durch die Wohnung wandelt. Das Chaos, das in diesem Film über Anziehung, Zuneigung, Sex und Liebe entsteht, ist schmerzhaft und romantisch, abschreckend und ertappend. Und Sachs schafft es, die Klischees, die so oft mit der Darstellung von Dreiecksbeziehungen in Filmen einhergehen, auszulassen.
Basierend auf dem gleichnamigen Roman des Tomte-Sängers Thees Uhlmann entfaltet Charly Hübner („Mittagsstunde“) in seinem Regiedebüt „Sophia, der Tod & ich” eine herrlich absurde Anarcho-Komödie, die irgendwo zwischen „Fraktus“ (Rocko Schamoni mischt hier auch mit) und „Die Känguru-Chroniken“ angesiedelt ist. Dimitrij Schaad hat dieses Mal kein Känguru an seiner Seite, sondern einen genauso nervigen Todesengel (Marc Hosemann legt diesen mit viel Spielfreude an), was ebenfalls wieder zu einem chaotisch-grotesken Road-Trip führt. Hübner hat die Romanadaption äußerst stilsicher und effektiv inszeniert, und das überschaubare Ensemble, das bis in die kleinste Nebenrolle exzellent gecastet ist, wird von ihm zu Höchstleistungen angespornt.
Der alte Tsutomu (Kenji Sawada, „Mishima“) lebt im Einklang mit der Natur in den Bergen. Hin und wieder besucht ihn seine Lektorin, die er mit Freude bekocht, denn: „Nichts ist besser als mit Menschen zu essen, die man mag.“ Basierend auf einem Essay des Autors Mizukami Tsutomu folgt Regisseur Yuji Nakae in „Das Zen-Tagebuch“ ein Jahr lang dem geerdeten Einsiedler, der als Junge in einem Kloster bei Tokyo das Kochen nach Zen-Regeln erlernt und vor 13 Jahren seine Frau verloren hat. Ein Jahr, in dem Tsutomu seine Mahlzeit, seinen Alltag und sein Glück ganz nach dem Wandel der Monate ausrichtet. Doch die Lust am Leben birgt auch Angst vor dem Tod, was am Ende auf eine hübsche Reminiszenz an Arthur Penns „Little Big Man“ ausläuft. Entschleunigtes Drama, das Appetit und Sehnsüchte weckt.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Matthias Luthardts D.H. Lawrence-Adaption „Luise“, Radivoje Andrićs Coming-of-Age-Urlaubsgeschichte „Der Sommer, als ich fliegen lernte“, Josh Greenbaums freche Hunde-Komödie „Doggy Style“ und Antoine Fuquas in Italien spielendes Action-Sequel „The Equalizer 3: The Final Chapter“.
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