Natur ist doch völlig überschätzt. Welches Volk ist schon noch Naturvolk hier auf Erden? Und, seien wir mal ehrlich, wen von uns kümmert schon die Natur? Also, in letzter Konsequenz. Natürlich brauchen wir die Natur. Steak, Sonne, Sauerstoff. Und klar, wir lieben die Natur. Vollmond, Wiese, Meer. Also sind wir der Natur nah, solang sie uns mundet und erfreut. Und nicht zu weit weg ist. Ansonsten suchen wir uns Naturevents im Zoo. Oder Abenteuer-Zelten mit Oropax und Schlafmaske, damit einen morgens die Natur nicht betört, äh: stört. Natur, Natur, meine Güte. Und überhaupt, was ist das eigentlich nochmal: Natur? „Natur“, sagt Wikipedia, „bezeichnet in der Regel das, was nicht vom Menschen gemacht wurde“. Na, das ist doch mal erfrischend klar und deutlich. Wobei: Ist dann der Mensch überhaupt Natur? Hat uns die Natur gemacht oder wir uns selbst? Weiter unten auf der Wissensplattform ergänzt der zeitgenössische Philosoph Gregor Schiemann: „Natur gehört zu dem, was bleibt und sich nicht selbst vernichtet.“ Nun, damit gehört Natur zumindest nicht zum Menschen, der drauf und dran ist, sich selbst zu vernichten. Der nicht bleibt. Man muss sich das immer mal wieder bildlich vorstellen: Irgendwann ist der Mensch wieder weg. Diese Ruhe. Dieser Frieden. Dieser Einklang. Schauen Sie mal Gints Zilbalodis‘ „Flow“, der erst im März in unsere Kinos kam: eine Wohltat.
Was aus dem Baby wird
Vorher aber geben wir weiter Vollgas, bis wir daran ersticken. Sehenden Auges. Kamikaze. Kamikaze-Flieger allerdings fliegen nicht sturz und denken erst im letzten Augenblick: Ach so! So wie wir, wenn’s „plötzlich“ zu spät ist: Ach so! Ein Hoch auf den Verdrängungsmotor! Mit dem verdrängen wir sogar die Zukunft unserer eigenen Kinder. Womit wir zurück am Anfang sind: Am Anfang ist die Unschuld. So ein Baby macht ja grundlegend noch nichts falsch. Es tut nichts, es ist bloß. Am Anfang sind wir quasi noch Natur. „Coffee to go“-Trash, Pool im Garten, Giraffen schießen, die eigene Art vernichten: Daran verschwendet so ein Baby nicht mal einen Gedanken. Wie aber wird aus einem so unschuldigen Baby der achtlose Mensch?
Handliche Natur
Nun, indem sich der gesunde Menschenverstand, der in jungen Jahren mitunter einsetzt, irgendwann wieder ausklinkt und wir nur noch Ego und Impuls folgen. Animalisch. Ohne Weitblick. Stattdessen: Blick aufs Handy. Das Mobiltelefon macht das, was Wohlstand seither macht, nur ungleich effizienter: „Angenehm stumpf“ (Andreas Dorau). Bis man irgendwann denkt, man sei mit dem Handy in der Hand naturverbunden, nur weil man sich sechs Stunden am Tag Seltene Erden vors Gesicht hält.
Gut durchkommen
Und so bleiben Kreuzdampfer und Fernflug-Routine auch bei selbsterklärten Greenies en vogue. Schließlich gibt’s für alles Ausrede, „Kompensation“, Relativierung. Konsequentes Umweltbewusstsein findet nicht statt in der Zivilisation. Was soll ich allein auch schon ausrichten? Die Urlaubsflieger fliegen auch ohne mich, denkt jeder Einzelne. Denken Millionen Einzelne. Und so schaut man kollektiv weg. Sowieso immer wieder gern genommen: die Kollektivschuld. Dann ist es am Ende keiner gewesen. Dann bin ich allemal Mitläufer. Und damit kommen wir Deutschen ja ohnehin gut durch bisher. Also die, die es am Ende überleben.
Es geht um: Mich!
Immerhin: Manchmal gibt’s einen Ruck. Wenn es dann mal – nanu! – vorübergehend sintflutet im Land. Oder wenn eine Einzelne Unzählige mobilisiert, indem sie freitags protestiert, statt zur Schule zu gehen. Dann setzt es mitunter doch mal gebündelte Impulse, und auf einmal ist das halbe Land, die halbe Welt aufgescheucht, alle applaudieren und die Politik sagt entschlossen: „Wir müssen …“. Zwei Jahre später muss man dann wieder ganz andere Dinge. Aufrüsten, zum Beispiel, Flüchtlinge hassen und den Klimaschutz zurückfahren.
Am Ende geht’s halt immer um mich. My backyard. Die Natur indes schaut zu, dreht Däumchen und wartet ab. Bei uns denkt jeder für sich – die Natur denkt groß. Die Natur hat Zeit. Und sie hat eine Vision. Ruhe. Frieden. Einklang.
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Kampf um Kalorien
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Teil 1: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 1: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
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Teil 1: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Keine Frage der Technik
Teil 2: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„So enden wir als Bananenrepublik“
Teil 2: Interview – Ökonom Patrick Velte über Politik und unternehmerische Planungssicherheit
Von Autos befreit
Teil 2: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Nach dem Beton
Teil 3: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 3: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
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„Ich ersetze keine Menschen – ich entlarve sie“
Ein Gespräch mit einer Künstlichen Arroganz über den Arbeitsmarkt – Glosse
German Normalo
Zwischen Selbstoptimierung und Abhängigkeit – Glosse
Sündenböcke, Menschenrechte, Instagram
Deutschland und der Krieg – Glosse
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German Obstacle
Hindernislauf zur deutschen Staatsbürgerschaft – Glosse
Schlechte Zeiten: Gute Zeiten
Die Macht der Nostalgie – Glosse
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
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Gedanken zur EU – Glosse
Sinnenbaden im Meer
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Blutige Spiele und echte Wunden
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Der heimliche Sieg des Kapitalismus
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