Wer vor der Jahrtausendende im nördlichen Ruhrgebiet aufgewachsen ist, weiß noch, dass jeder Bach der Richtung Emscher floss im Volksmund Köttelbecke hieß – und das zu Recht: war die Emscher doch über lange Zeit der wahrscheinlich längste offene Abwasserkanal Deutschlands. Mit dem schrittweisen Abschied vom Bergbau begann dann in den 90ern der Umbau des Emschersystems: Ziel war es, die Wasserläufe in der Emscherregion als Erholungsräume zu gewinnen. Nach dreißig Jahren Bauzeit war es Ende 2021 soweit: seitdem wird kein Abwasser mehr in die Emscher eingeleitet. Wie aber lockt man Menschen an den Fluss, die den Geruch des Abwassers noch allzu deutlich in der Nase haben? Und wie vermittelt man Jüngeren und Zugereisten das Mammutwerk des postindustriellen Umbaus von nicht nur ein paar Abwasserkanälen, sondern einer ganzen Region?
Neben Rad- und Wanderwegen lockt dazu der Emscherkunstweg mit 20 Kunstwerken im öffentlichen Raum, Kunstwerken, die spielerisch oder provokant auf die Emscher und die Region Bezug nehmen, als Denkanstoß wirken, zum Perspektivwechsel einladen oder schlicht Spaß machen. Was anlässlich von Ruhr.2010 mit überwiegend temporären Installationen begann, hat sich zu einem permanenten Skulpturenweg gemausert, gemeinsam umgesetzt von Urbane Künste Ruhr, der Emschergenossenschaft und dem Regionalverband Ruhr.
Ruhrgebiet im Dschungel?
Um diesen im wahrsten Sinne erfahrbar zu machen, bietet Emscherkunst fünf verschiedene geführte Radtouren zu den Werken der Emscherkunst an – zum Beispiel die Tour IV „Verspielt“ vom Landschaftspark Duisburg-Nord bis zum Kaisergarten. Diese Tour spannt mehrere Bögen durch die Emscherkunst-Geschichte, zwischen Emscherumbau und Stadt- und Naturgestaltung.
Vom Landschaftspark aus wird als erste Station „Neustadt“ angefahren, eines der jüngsten Werke der Berliner KünstlerInnen Julius von Bismarck und Marty Dyachenko. Auf einer Brachfläche sind hier 23 abgerissene Gebäude aus der Emscherregion originalgetreu im Maßstab 1:25 als „neue Stadt“ nachgebaut. Die wie zufällig zusammengewürfelten Modelle vergangener Kirchen, monströser Wohnkomplexe oder ehemaliger Spaßbäder werfen Fragen auf, darüber, wie Städte gestaltet werden oder was Bau und Abriss von Gebäuden bedeuten. Dabei verändert sich auch das Kunstwerk: das Überwuchern der Miniaturgebäude durch die Natur wirkt als Metapher für den Rückzug der industriell geprägten Stadtlandschaft und deren Rückeroberung durch die Natur. Das Ruhrgebiet als im Dschungel versinkende Stadt?
Irgendwie ein Kunstwerk
Eine andere städtebauliche Perspektive bietet das 2013 entstandene Projekt Play_Land von Apolonija Šušteršič. Als Ersatz für ein Jugendzentrum, das für die Baumaßnahmen an der Emscher abgerissen werden musste, entstand ein Erlebnisraum. Kunst ist hier ein integrativer Prozess, bei dem die Nutzer:innen in die Gestaltung einbezogen werden. Auch in Abwesenheit der Künstlerin läuft dieser Prozess weiter: von den Nutzer:innen selbst werden weitere Objekte hinzugefügt, Tags an die Wände gesprüht und ein Nachbarschaftsgarten angelegt.
Weiter geht die Radtour entlang der umgebauten Emscher, die hinter Deichen verborgen bleibt. Eigentlich kein Kunstwerk, aber irgendwie doch: das knallgrüne Pumpwerk Oberhausen. Als großer Meilenstein hin zur Abwasserfreiheit der Emscher in Betrieb genommen, verdeutlich es noch einmal die Größe des Emscher-Umbaus: unüberhörbar arbeiten seine Pumpen um die Abwässer des Ruhrgebiets in unterirdischen Rohren in Richtung des Klärwerks an der Emschermündung zu befördern. Der Blick vom Aussichtsturm zeigt, wie die Industrie die Landschaft prägt – und vermittelt gleichzeitig einen Ausblick auf die Zukunft: Am Holtener Bruch soll in den nächsten Jahre eine Auenlandschaft entstehen.
Wahrzeichen Oberhausens
Die Tour endet in Oberhausen am Kaisergarten, an einem der allerersten Werke der Emscherkunst, der 2010 von Tobias Rehberger entworfenen Fußgängerbrücke „Slinky springs to fame“, die sich in 496 Bögen und 80 Farbfeldern über den Rhein-Herne-Kanal schlängelt. Auch hier erschließt sich eine Perspektive der Stadtentwicklung, ein Brückenschlag zwischen dem historischen Volksgarten, der den Oberhausenern seit 1898 einen „erfrischenden Aufenthalt in der Natur“ ermöglichen sollte, und der für diesen Zweck wiedergewonnenen Emscher. Die Brücke – mittlerweile neben dem Gasometer fast zum zweiten Wahrzeichen Oberhausens avanciert – schwingt vergnüglich, wenn man darübergeht. Farbig illuminiert soll sie nachts besonders beeindruckend sein. Aber das bleibt für den nächsten Besuch.
Nach rund drei Stunden endet die Tour, eine von fünf unterschiedlichen geführten Radtouren mit einer Länge von jeweils rund 20 km. Das Mitfahren ist kostenlos, eine Anmeldung erforderlich; auch individuelle Trouren sind buchbar. Ein Fahrrad ist mitzubringen, teilweise kann an Start- bzw. Endpunkten auf Leihräder von metropolradruhr zurückgegriffen werden. Für diejenigen, die die Strecke lieber alleine fahren möchten, stehen GPX-Tracks bereit.
Emscherkunstweg Touren | sonntags von April bis Oktober
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