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„Ich habe nichts zu verbergen“
Foto: Martin Kaufhold

Digitaler Schlafrhythmus

26. November 2015

„Big Data“ am Schauspiel Essen – Theater Ruhr 12/15

Ohne Familie geht gar nichts. Nicht mal Big Data, denn der ist ein riesiger babyhafter rosafarbener Wonneproppen mit blonder Tolle (Jan Pröhl). Das Handy vorm Gesicht wie ein Datenansaugstutzen zerlegt er die ganze Familie in Algorithmen. Vor allem seinen Vater Jaron (Daniel Christensen), den angefetteten Rastaman und früheren Open-Source-Visionär – unverkennbar eine Parodie auf Jaron Lanier –, den Google und Kollegen längst aufs sozialträumerische Abstellgleis geschoben haben. Ines Krug als Big Datas Mutter ist die Inkarnation der Trailer-Park-Schnalle, Zigarette im Mundwinkel, Kittelschürze und Rumgekeife, während Tattoo-Tanktop-Töchterchen Lisa (Lisa Henrici) die naive Facebookenthusiastin gibt.

Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer verortet seinen Abend „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ im Wohnzimmer mit Küchenzeile – quasi dem Gegenstück zur mythischen Garage, in der bekanntlich alle digitalen Pioniermaulwürfe sich vergraben haben. Lisa gerät schnell in die Fänge von App-Raphaela (Raphaela Möst), einem netten blonden Datenvampir, der mit Suggestivfragen seinem Opfer nicht nur algorithmische Infos abpresst, sondern fast leibhaftig in es eintaucht – bis Mutter Ines eine Brandrede gegen Eric (vulgo: Schmidt) und seinen Gratisdatenkultur hält. Ganz alte kapitalistische Schule: Was nichts kostet, ist nichts.

Immer wieder gelingt es Schmidt-Rahmer mit der altmodischen analogen Theatermaschine die Digitalisierung zwischen historischem Blick, googlesker Dystopie und klamottiger Familiengeschichte zum Glänzen zu bringen. Datenkorrelationen werden an wunderbar absurden Beispielen deutlich, so die Verbindung zwischen Tankstellenfahrten, psychischer Klassifikation und Kreditwürdigkeit. Im zweiten Teil blendet der Abend in ein Büro der Kreativen und führt den vermeintlichen Altruismus digitaler Netzwerker mit deren unerbittlicher sozialer Konditionierung zusammen. Die Kreativen lagern auf der Erde, vor sich ihre Bildschirme und guten Absichten: CO² verringern, weniger Lebensmittel verschwenden, mehr Fairness im Berufsleben usw. Klingt alles nachvollziehbar und führt doch unmittelbar in eine stärkere Kontrolle. Die Lösung ist der „Soziometer“, der das soziale Verhalten anhand von Hautwiderstand oder Pupillenweite im Büro misst oder kontrolliert, wenn ein Mitarbeiter vorm Süßigkeitenautomat steht.

Schmidt-Rahmer spart sich auch den kleinen selbstreferentiellen Schlenker nicht und lässt Daten von Zuschauern erheben, wie ihnen das Theater gefällt. Jan Pröhl muss eine Szene endlos wiederholen, weil das Gesicht einer Zuschauerin keine Zufriedenheit signalisieren will. Schließlich wird es richtig düster, wenn Lisa wahnhaft die altgewordenen Eltern mit Sensoren total überwacht. Stuhl- und Mageninhaltsanalyse, Bewegungsmuster, Schlafrhythmus – nichts mehr bleibt unkontrolliert oder dem Zufall überlassen. Das Leben als Echtzeit-Datenlieferant. Nicht dass man vieles davon nicht schon wüsste – „Big Data“ hilft, die eigene Hilflosigkeit zu akzeptieren und ein wenig beiseite zu lächeln.

„Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ | R: Hermann Schmidt-Rahmer | Sa 12.12. 19.30 Uhr, So 13.12. 16 Uhr | Schauspiel Essen | 0201 812 22 00

Hans-Christoph Zimmermann

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