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Markus Elstner mit einer Kopie seines Briefes an den ehemaligen Papst, Joseph Ratzinger
Foto: Jan Turek

„Die haben meine Kinderseele zerstört“

06. März 2020

Interview: Markus Elstner wurde als Zwölfjähriger von einem Priester missbraucht – Spezial 03/20

trailer: Herr Elstner, Sie wurden in den 1970er Jahren von einem Priester missbraucht. Bei der deutschen Bischofskonferenz wurde nun beschlossen, dass Missbrauchsopfern Entschädigungen zwischen fünf- und fünfzigtausend Euro gezahlt werden sollen. Was halten Sie davon?

Markus Elstner: Ich bin der Meinung, dass das absolut nicht ausreichend ist. Damit kann man kein kaputtes Leben wieder in Ordnung bringen. Das kann man mit Geld ohnehin nicht. Aber man kann den Betroffenen Sicherheit geben, sodass sie keine Existenzängste mehr haben müssen. Wenn man die Fünf- bis Fünfzigtausend auf einen Monat oder einen Tag umrechnet, dann ist das praktisch nichts. Das sollten die nochmal überdenken. Für mich ist das Zeitschinderei. Man will uns ein Pflaster aufkleben. Sie hoffen, dass viele jetzt den Mund halten werden.

Was hat Ihnen der Priester Peter H. damals in Bottrop angetan?

Als ich zwölf Jahre alt war, wurde ich zum ersten Mal von Herrn H. sexuell missbraucht. Zuvor hatte es bereits eine andere Tragödie in meiner Familie gegeben. Darum war ich für ihn eigentlich ein leichtes Opfer, ausgelöst durch andere traumatische Erlebnisse. Ich nenne mich aber nicht mehr Opfer. Ich bin Betroffener. Ich war zu der Zeit auch Messdiener. Er hat mich in die Pfarrwohnung eingeladen. Dort fing es mit Streicheleinheiten an. Dann ist es mehr geworden. Er hat mich angefasst. Er hat mir an mir gezeigt, was ich bei ihm machen soll: Ich musste ihn oral befriedigen. Das ist 15 bis 20 Mal passiert, bis zu meinem 14. Lebensjahr, bis ich dann irgendwann da weggelaufen bin. Ich wollte nicht mehr da hin. Ich habe mich niemandem anvertraut. Meine Mutter hat versucht, aus mir raus zu kriegen, was mit mir los ist. Aber ich habe nicht darüber gesprochen.

Es ist 15 bis 20 Mal passiert. Wie kam es, dass es nach dem ersten Mal wieder passiert ist?

Er hat mich mit Alkohol gefügig gemacht – von Anfang an. Dann hat er mir auch Geld zugesteckt. Fünf oder Zehn Mark. Davon konnte ich mir dann Teile für mein Fahrrad und ein Skateboard kaufen. Für Kinder, die nicht viel haben, ist das ein gutes Lockmittel. Meine Mutter musste mehrere Jobs arbeiten, um uns irgendwie durchzukriegen. Durch den Missbrauch ist man irgendwie ohnmächtig, wie gelähmt. Auch als ich zum ersten Mal da saß: Ich war gar nicht in der Lage, mich zu bewegen. Als Kind wusste ich noch nichtmals, ob das richtig oder falsch ist. Ich wusste nicht, ob das erlaubt oder verboten ist. Ich hatte keine Ahnung davon. Ich war ja noch nicht aufgeklärt. Aber er hat mich unter Druck gesetzt, dass ich nichts sagen darf.

Sind Sie regelmäßig zur Kirche gegangen, bevor das Ganze losging?

Meine Mutter war katholisch und hat uns auch mit in die Kirche genommen. Auch während der Zeit des Missbrauchs musste ich in die Kirche. Ich wollte aber nicht. Ich wollte fern bleiben. Ich wollte aus der Kirche raus. Wir saßen meistens in der letzten Bank. Mir war übel und ich wollte raus. Ich habe dann meinen Speichel in meinem Mund gesammelt, bis ich dicke Backen hatte, bin dann raus gerannt und habe mich mehr oder weniger übergeben, damit meine Mutter es auch sieht und ich nicht wieder mit rein muss. Seit der Zeit des Missbrauchs wird mir beim Geruch von Weihrauch speiübel.

Und dass man sich an jemandem vergeht, der ohnehin schon in einer schweren Situation ist, macht es noch perfider.

Ja. Zu der Zeit waren meine Schwester und ich im Kinderheim. Und auch nachdem er schon nach Essen versetzt war, hat er noch versucht, über meine Mutter an mich ran zu kommen. Sie sollte mich in den Bus oder in ein Taxi setzen und er würde es bezahlen. Er hat meine Mutter damit regelrecht genötigt.

Sind Sie denn noch nach Essen gekommen?

Nein. In Essen war ich nicht.

Waren damals, Ende der 70er, schon Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester bekannt?

In Bottrop wurde schon darüber gesprochen. Eine Mutter wollte auch Anzeige erstatten. Die Kirche hat aber versucht, sie ruhig zu stellen, damit sie nichts sagt. Kurz darauf wurde er nach Essen versetzt. Es wurde gemunkelt, man hat etwas geahnt. Auch viele ältere Jugendliche haben darüber gesprochen. Aber bei mir kam es wohl nicht an, wahrscheinlich weil ich noch jünger war. Das ist nur nicht an die Öffentlichkeit gekommen.

Wann wurde Ihnen klar, wie falsch das Ganze war?

Selbst als er versetzt wurde, wurde es mir noch nicht klar. Ich habe immer geschwiegen. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Hinterher habe ich mich geschämt. Es war mir peinlich. Wenn es Gespräche zu solchen Themen gab, habe ich mich zurückgezogen, aus Angst, dass man es mir ansehen könnte.

Gab es auch eine Phase, in der Sie es verdrängt haben?

Wir wohnten direkt gegenüber der Kirche. Aus dem Küchenfenster habe ich jeden Tag auf die Kirche geguckt. Ich habe die ganze Zeit in Bottrop gewohnt und wohne bis heute dort. Wenn ich in der Stadt bin, komme ich fast täglich an der Kirche vorbei. Und auch an dem Pfarrhaus – an der Tatwohnung, komme ich oft vorbei. Also wirklich verdrängen konnte ich es nie. Es war immer da.

Foto: Jan Turek

Sie sprachen eingangs von einem „kaputten Leben“. Inwieweit hat der Missbrauch Ihr Leben geprägt?

Ich war nie in der Lage, wirklich lange einen Beruf auszuüben. Meine Jobs haben immer nur ein oder eineinhalb Jahre gehalten. Ich habe mehrere Ausbildungen angefangen und habe es nie geschafft. Sobald Druck auf mich ausgeübt wurde, habe ich den Job fallen lassen. Ich war auch nie in der Lage, lange eine Beziehung zu führen. Nach einem Jahr kam immer die Frage, was denn mit mir los ist. Ich wollte oder konnte aber nicht darüber reden. Es war mir immer wieder peinlich. Ich habe mich zurückgezogen und wurde launisch. Ich wusste es selbst gar nicht zuzuordnen, warum ich so anders bin oder mich verändere. Mir war gar nicht bewusst, dass das alles damit zusammenhängt. Wenn dann mit etwas Druck die Frage kam „Ich will jetzt wissen, was mit dir los ist“, habe ich mich noch mehr zurückgezogen, bis ich weg war. Darum sind die meisten Beziehungen kaputt gegangen. Jahrelang habe ich es auch aufgegeben, eine Beziehung einzugehen, weil ich dachte, es wäre sinnlos. Ich wollte eine Partnerin nicht verletzen, und mich selbst auch nicht. Ich wusste ja, wie es ausgeht. Zum Glück kam vor zweieinhalb Jahren meine jetzige Freundin und hat mir gezeigt, dass es auch anders geht. Durch den Missbrauch sind auch Depressionen entstanden, eine posttraumatische Belastungsstörung, Angst- und Panikattacken und ja, er hat mich auch zum Alkoholiker gemacht, weil er mir im Kindesalter schon Alkohol gegeben hat. Ich habe mein Leben lang weiter getrunken. Wenn ich meinen Lohn bekommen habe, ist er meistens in der Kneipe gelandet. So ging es immer weiter bis Mitte Februar dieses Jahres: Da habe ich im Krankenhaus freiwillig einen Entzug gemacht. Seit Montag, dem 17.2. habe ich jetzt nichts mehr getrunken. Mein Hausarzt unterstützt mich auch dabei. Und abends trinke ich jetzt Eistee, Spezi oder Tee. Es scheint zu klappen.

Weiterhin viel Erfolg! Mittlerweile sprechen Sie sehr offen über den Missbrauch: Sie haben sich im Fernseh-Beitrag von Frontal 21 und Correctiv gezeigt und es scheint Ihnen ein Bedürfnis zu sein, dass die Geschehnisse publik werden. Warum?

2010 ist das Trauma aus mir ausgebrochen, als der Fall an die Öffentlichkeit kam. Als ich den Täter, Herrn H., plötzlich im ZDF-Mittagsmagazin gesehen habe, hatte ich das Gefühl, er kommt mir aus dem Fernseher heraus entgegengelaufen. Da war alles wieder da. Ich habe mit meiner Therapeutin gesprochen und Anzeige erstattet. Im August 2010 wurde dann meine Mutter schwer krank. Ich habe mich zwei Jahre lang um sie gekümmert und konnte mich nicht um mich selbst kümmern. 2012/2013 habe ich versucht, Hilfe zu bekommen. Nach vielen vergeblichen Versuchen, konnte man mir beim Paritätischen Wohlfahrtsverband helfen. Es gab zwar noch keine entsprechende Selbsthilfegruppe in der Umgebung: Zur „Tauwetter“-Gruppe in Berlin konnte ich mit Hartz IV nicht alle paar Wochen fahren. Der Paritätische in Bottrop hat mir dann angeboten, selbst eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Das habe ich getan und ab da ging es bergauf. Die haben mir Hilfe gegeben und Mut gemacht. Es haben sich viele Betroffene bei mir gemeldet. Es war gut zu merken, dass ich nicht alleine bin. Wenn einer spricht, trauen sich andere, auch zu sprechen. Das hat mir Mut gemacht, immer weiter zu machen. Ich habe gelernt, dass Sprechen hilft. Mein Motto ist geworden: Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter.

In dem Beitrag Fernseh-Beitrag sprachen Sie von „Seelenmord“.

Ja. Sexueller Missbrauch an Kindern ist Seelenmord. Die haben meine Kinderseele zerstört und mein ganzes Leben dadurch auf dem Gewissen. Deswegen darf sowas nicht verjähren. Ich weiß, dass die Regierung die Verjährungsfristen nicht abschaffen möchte. Es wurde zumindest geschafft, dass sie verlängert wurden. Aber ich möchte, dass es in so einem Fall wie dem meines Täters – mit vielen Betroffenen und Aussagen –, möglich wird, dass man noch gegen den Täter vorgehen kann und darf.

Wie hat sich Ihr eigener Glaube im Laufe der Zeit verändert?

Als Kind war ich Messdiener und stolz darauf. Ich hatte sogar den Gedanken, selbst Priester zu werden. Das kann ich mir heute gar nicht mehr vorstellen. Heute glaube ich nur das, was ich sehe. Und die Kirche, so wie sie früher war, ist für mich eine Zucht- und Brutstätte für Pädophile gewesen, weil die sich so gedeckt und geschützt haben.

Sie haben sich kürzlich in einem Brief direkt an den ehemaligen Papst, Joseph Ratzinger gewendet. Worum ging es darin?

Ich habe viele Fragen gestellt, zum Beispiel: „Wie kann es sein, dass ein Sexualstraftäter, der Ihnen persönlich bekannt geworden ist, weiterhin Kontakt zu Kindern haben konnte, welche zu Missbrauchsopfern von diesem Verbrecher wurden?“ Ich finde, dass es an der Zeit wäre, dass auch er Fehler eingesteht und dass die Kirche Fehler eingesteht und nicht dieses Gestammel der Herren Marx und Ackermann bei der Bischofskonferenz. Dieses „Wir bitten um Entschuldigung“ ist alles nur Geschwafel. Sie sollen nicht um den heißen Brei reden und Gras über die Sache wachsen lassen, sondern endlich was tun für Betroffene. Es ist beschämend, wie die Kirche mit uns umgeht.

Was könnte die Kirche denn konkret tun, um Ihr Leid zu lindern?

Mir ging es nie um Geld, sondern immer um die Sache. Die fünftausend Euro, die ich mal bekommen habe, hätte ich am liebsten ins Klo geschmissen. Heute sehe ich das etwas anders: Er hat mein Leben auf dem Gewissen. Ich war nie in der Lage, lange zu arbeiten, konnte nicht in die Rentenkasse einzahlen. Wenn noch eine größere Entschädigungszahlung kommen sollte, würde ich das als meine Rente ansehen. Ich war nie in der Lage, mir etwas zu gönnen – auch heute noch. Mein Anwalt und ich fordern jetzt fünfhunderttausend Euro. Was dabei hinterher rumkommt, wird man sehen. Aber ich finde das angemessen. Ich bin mittlerweile der Meinung, ich habe genug gejammert. Jetzt wird es Zeit für Forderungen. Jetzt wird es Zeit für die Kirche und für die Regierung, dass endlich Taten folgen.

Sind Sie selbst auch noch tatkräftig aktiv, um die Situation von Betroffenen zu verbessern?

Durch meine Arbeit mit der Selbsthilfegruppe habe ich den Verein „Sieben Freunde“ aus Bottrop kennengelernt und bin eingetreten. Wir machen seit fünf Jahren fast jedes Jahr ein Projekt zum Schutz von Kindern, gegen sexuellen Missbrauch. Unser aktuelles Projekt ist das längste Bild der Welt mit Kinderhänden. Kinder färben ihre Hände und drücken sie auf ein DIN-A4-Blatt. Die Blätter wollen wir dann zu einer Bilderschlange zusammenkleben. Das Ziel sind 38 Kilometer, was ca. 137.500 Blättern entspricht. Wir wollen nicht nur den Weltrekord knacken. An erster Stelle sollen die Kinder Spaß haben, weil sie an einem Weltrekordversuch teilnehmen. Das Bild würden wir gerne mit nach Berlin nehmen und der Regierung vor die Füße rollen. Damit wollen wir auf körperliche oder sexuelle Misshandlung aufmerksam machen – nicht nur in der Kirche, sondern auch zu Hause, im Sportverein, beim Musiklehrer oder, oder, oder. Wir möchten auch mit Eltern ins Gespräch kommen und dafür sorgen, dass Lehrer und Kita-Personal kleine Anzeichen bei missbrauchten Kindern besser erkennen können. Mit dem Projekt möchten wir ganz viele Menschen erreichen um für das Thema zu sensibilisieren, damit sie Antennen kriegen „Oh, mit dem Kind könnte was sein“. Mein Wunsch wäre, dass das Thema Missbrauch und wie man ihn erkennen kann auch in die Ausbildung von Pädagogen und Lehrpersonal aufgenommen wird.

Interview: Jan Turek

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