Sehr komisch: Da bekommt nach Jahrzehnten endlich wieder der Gedanke an elektrische Mobilität Schwung und Oberwasser, da wird ein nationaler Aktionsplan ausgerufen und in Regio-Clustern Fördergeld ausgeschüttet. Doch ausgerechnet der älteste Elektromobilist im Lande, die Bahn, dreht sich in diesem Wettbewerb verschämt weg, installiert hier eine Ladesäule, dort ein Car-Sharing-Konzept, statt selbstbewusst zu trompeten: „Hallo? E-Mobilität – das sind doch … wir!“
Elektromobile – den heutigen Pedelec-Rittern und Tesla-Testern kaum bewusst – verfügen über reichlich Vorgeschichte: Als Edisons „Electric Runabout“ 1889 als Zweisitzer auf die Straße kam, war Siemens’ E-Lok aber schon zehn Jahre im Einsatz. Der „Roll-out“ des ersten batterieversorgten Schienenfahrzeugs erfolgte noch früher, anno 1851 nahe Washington.
Eisenbahn gehört so sehr zum Alltag statt zur Zukunft, dass sie in den E-Mobilitäts-Konzepten keine Rolle zu spielen scheint. Ein Irrtum. Im Ruhrgebiet überlegt vor allem der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) seit 1999, wie der Regionalverkehr leistungsfähiger und attraktiver werden kann. Angesichts der vollen Autobahnen zwischen Düsseldorf und Dortmund eine unbedingte Notwendigkeit. „Aber momentan sind wir einfach am Ende“, räumt VRR-Experte Georg Seifert ein. „S-Bahn, Regio-Verkehr, Fernverbindungen und Gütertransport: Die Schiene ist voll. Und einzelne Züge sind noch voller.“
Mal eben eine Verbindung zusätzlich auf das Gleis zu stellen, scheitert oft an den Netzkapazitäten. Zwölf Züge auf einer Trasse gelten als Stundenmaximum – „wenn es gut läuft.“ Die Gründe: unterschiedliche Geschwindigkeiten, veraltete Signaltechnik, Sicherheitsabstände. Am Essener Hauptbahnhof enden zwei Nahverkehrslinien und blockieren so die bessere Nutzung von Gleis und Bahnsteig. Berüchtigt ist der Strecken-„Flaschenhals“ zwischen Essen und Bochum. Und im Knotenbahnhof Dortmund muss in den Folgejahren ebenfalls viel passieren.
VRR und Bahn versuchen, die Lage mit längeren Zügen zu entspannen. Die Regio-Express-Linien RE 1 (Aachen - Paderborn), RE 2 (Düsseldorf - Münster) und RE 5 (Emmerich - Oberhausen - Düsseldorf - Koblenz) fahren mit fünf statt vier bzw. sechs statt fünf Doppelstockwagen. Aus Recklinghausen ist die Landeshauptstadt inzwischen direkt und flott erreichbar. Die Strecke wird vor allem im Freizeitverkehr gut angenommen, weiß VRR-Sprecher Johannes Bachteler: „Die Leute können direkt zum Einkauf an der Kö durchfahren.“
Größte Hoffnungen verknüpft man aber mit dem Rhein-Ruhr-Express (RRX), der in Zukunft mit Tempo 160 durchs Revier rauschen soll. Auf der Ruhrgebiets-Magistrale, die täglich von 210.000 Pendlern genutzt wird, würde er kaum langsamer als ein ICE sein, dafür aber die Großstädte im 15-Minuten-Takt verbinden. Freilich ist der RRX ein immenses Infrastruktur-Projekt, das seine Zeit braucht: Strecken und Bahnhöfe müssen ausgebaut, völlig neue Züge bestellt werden. Beim letzten „Gipfel“ sicherte die Deutsche Bahn als Netzbetreiber zu, nötige Planverfahren bis 2013 einzuleiten. Der Anfang wird gerade für die Trassenverbreiterung zwischen Duisburg und Düsseldorf gemacht. Den RRX bis 2020 zu realisieren, hält Bachteler deshalb für ein sehr ambitioniertes Ziel: „Stuttgart 21 hat ja auch zehn Jahre gebraucht.“
Das Ruhrgebiet könnte ein gutes Stück weiter sein, hätte nicht der technikverliebte Ministerpräsident Wolfgang Clement statt des RRX ein geradezu aberwitziges Projekt mit Glanz in den Augen verfolgt. Seine Vision vom „Metrorapid“ als Regio-Express wollte er gar bis zur Fußball-WM 2006 realisiert haben. Ein Machbarkeitsgutachten bescheinigte ihm auch, dass dies gelingen könnte – allerdings hätten Weihnachten, Ostern und Erntedank auf einen Tag fallen müssen. Erst Nachfolger Peer Steinbrück erkannte, dass der Magnetzug auf eigener (für andere unbenutzbarer) Trasse mehr Schaden als Nutzen anrichte und zudem mit kalkulierten 4,7 Milliarden Euro unfinanzierbar sein würde. Im NRW-Wirtschaftsministerium räumt man heute ein, der Flop habe vor allem dringend benötigte Zeit gekostet, die in den RRX sinnvoller investiert gewesen wäre.
Knapp 84 Prozent der Beförderungsleistung im VRR-Gebiet wird elektrisch realisiert. Dabei wird es auf Sicht bleiben, allenfalls kleine Ergänzungen sind denkbar. Reichlich Einsparpotenzial ist allerdings bei den Antrieben drin: „Triebzüge fahren heute in einer ganz anderen Liga als Lok-bespannte Züge“, weiß VRR-Experte Georg Seifert: „Die verbrauchen 30 bis 50 Prozent weniger Energie und gewinnen sie teilweise beim Bremsen wieder zurück.“
Bahn und Verkehrsverbund arbeiten parallel an weiteren Mobilitätsprojekten. Für das i-Phone existiert eine App, die den Blick auf Fahrplan und die aktuelle Pünktlichkeitslage erlaubt. Die Ticketbuchung soll dazukommen sowie deren Barcode-Nachweis auf dem Smartphone. Das E-Ticket könne im weiteren Verlauf sogar Car-Sharing-Zugriff erlauben, die Leihe von Elektrofahrrädern und das „Aufschließen“ von öffentlichen Ladesäulen. Spezielle Arbeitsgruppen würden diese intermodale Verbindung vorantreiben, sagt der VRR.
Fazit: Die älteste Form der E-Mobilität ist für die Zukunft gar nicht schlecht aufgestellt. Einen Grund, das Licht unter den Scheffel zu stellen, erkennt man kaum. Was der guten alten Eisenbahn mit ihrer Jahrhundert-Tradition ironischer weise fehlt, ist Zeit.
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