Am frühen Morgen ist es schön im Schlosspark vom Haus Weitmar, die Vögel zwitschern, Radwanderer ruhen im Schatten der Sylvesterkapelle. Hier, wo früher die Eleven der leider untergegangenen Bochumer Schauspielschule immer Open-Air-Shakespeare gaben, hier dreht sich nun hinter gläserner Tür der bronzene Erdnussflip des britischen Künstlers William G. Tucker (81). Sein verwirrender Titel „Prow“ (2010), was eigentlich einen Schiffsbug bezeichnet. Danach sieht das krüsselige Ding aber erst einmal nicht aus, das sich da – angestrahlt von zwei Lichtern – endlos auf dem Beton-Quader in einem schmalen Mauertunnel (eigentlich romanisches Tonnengewölbe) dreht. Ist dies der einstige Zugang zum ehemaligen zerbombten Reliquienschrein (Krypta) der Schlosskapelle oder die Grabkammer? – und sowieso war der doch längst verschlossen. Für die Dauerleihgabe des eigentlichen Hausherrn Alexander von Berswordt-Wallrabe an die Stiftung Situation Kunst der Ruhr-Universität wurde der Gang wieder geöffnet und für ein paar Euro (25.000) hergerichtet.
Die wie in Stein gehauene oder auch lehmig wirkende Skulptur war es natürlich wert. Und ich habe sie sofort durchschaut. Nicht bedeutungslos, nicht abstrakt, ein Meer von Assoziationen schwemmt diese gekrümmte Form ins Gehirn. Fassen lässt sie sich kaum, selbst bei der langsamen Drehung verschwimmen ihre Konturen. Minimalart der 1960er, mit der Tucker damals berühmt wurde und 1968 an der Kasseler documenta IV teilnehmen durfte, wo eigentlich in der Hauptsache US-amerikanische Op- und Pop-Art der Welt gezeigt wurde. Unvergessen, Bazon Brock legte da los, und irgendwelche unbekannten linken Fluxus- und Aktionskünstler sollen da wohl demonstriert haben. William G. Tucker jedenfalls lebte von da an in New York und wurde dort eingebürgert.
Ebenfalls in der Ruine steht die Plastik „O.I.C.“ (1999) vom US-Bildhauergott Richard Serra (77). Zwei formal ebenmäßige Quaderblöcke aus Schmiedestahl korrespondieren lebhaft mit Tuckers Arbeit (Serra war zwar erst auf der documenta V, dafür aber auch bei VI, VII und VIII! – und er hat viele Roots im Ruhrgebiet – nur mal so am Rande). Schauen wir noch einmal auf „Prow“ und denken an die Unterwasser-Archäologie. Genau. Genauso würde der abgebrochene Bug eines alten Ägypter-Seekreuzers aussehen, wenn man ihn geborgen hat. Dass der Künstler in Kairo geboren wurde, tut hier natürlich nichts zur Sache. Der Meister der abstrakten Bildhauerei spielt mit der verschwommenen Abgrenzung zur Figuration, auch im Bochumer Schlosspark ist das so. Die Glastür vor seinem Werk entspringt wohl eher dem Sicherheitsgedanken. An diesem sonnigen Morgen musste man sich schon die Nase plattdrücken, um den vielleicht „Lehmklumpen“-Schiffsbug erkennen zu können, trotz Beleuchtung. Am Anfang war da ja immer nur ein Lehmklumpen, aber ordentlich entspiegeltes Glas hätte eigentlich im Etat der in Bochum üblichen Sponsoren drin sein müssen. Wo sind nur meine Erdnussflips?
William G. Tucker: „Prow“ | Situation Kunst (für Max Imdahl), Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum | Im Park von Haus Weitmar (Sylvesterkapelle) | 0234 298 89 01
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Letzter Ausgang Datenbank
Das Pixelprojekt Ruhrgebiet zeigt in Gelsenkirchen Neuaufnahmen – Kunstwandel 09/17
Schnöde Keramik auf Droge
„The Fun Archive“ Retrospektive von Thomas Mailaender im NRW-Forum Düsseldorf – Kunstwandel 04/17
„Künstler aus dem Giftschrank“
„Artige Kunst“ in der Bochumer Situation Kunst – Sammlung 11/16
Ewig rauscht nur die Volme
Urban Lights Ruhr will neuen Impuls für Hagen – Kunstwandel 10/15
Aus dem Netz in den Bus
Die „museumsplattform nrw“ wirbt mit Butterfahrten – Kunstwandel 09/15
Von Göttinnen zu Arbeitstieren
Information und Kunst. „Single Moms“ im Bonner Frauenmuseum – Kunstwandel 10/14
Vom Wesen der Materie
Museum Kunstpalast in Düsseldorf zeigt „Kunst und Alchemie“ – Kunstwandel 07/14
Parallel zum Megastau-Areal
„Urbane Künste Ruhr“ zelebriert den Ruhrschnellweg – Kunstwandel 08/13
Unterwegs im virtuellen Raum
Peter Kogler im Lehmbruck Museum in Duisburg – kunst & gut 09/25
Ruhrgebilder
Pixelprojekt-Neuaufnahmen in Gelsenkirchen – Ruhrkunst 09/25
Imdahls Sehschule
50 Jahre RUB-Kunstsammlung in Bochum – Ruhrkunst 09/25
Formationen lesen
Amit Goffer im Haus Kemnade – Ruhrkunst 08/25
„Er fragt auch nach den Bezügen zu Europa“
Kurator Tobias Burg über „William Kentridge. Listen to the Echo“ im Essener Museum Folkwang – Sammlung 08/25
Appetithäppchen
Westdeutscher Künstlerbund (WKB) in Witten – Ruhrkunst 08/25
Geschichten und Gegenwart
Miriam Vlaming in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 08/25
Realismus des Alltags
Paula Rego im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 07/25
„Auch mal am Tresen entstanden“
Leiterin Christine Vogt über die Ausstellung zu Udo Lindenberg in der Ludwiggalerie Oberhausen – Sammlung 07/25
Viel zu tun
RUB-Sammlungen im MuT Bochum – Ruhrkunst 07/25
Nachtspaziergang im Keller
„Light-Land-Scapes“ in Unna – Ruhrkunst 07/25
„Der Beton ist natürlich sehr dominant“
Die Kurator:innen Gertrud Peters und Johannes Raumann zu „Human Work“ in Düsseldorf – Sammlung 07/25
Die „Zweite Schuld“ der Justiz
Ausstellung zur NS-Vergangenheit des Bundesjustizministerium im Bochumer Fritz-Bauer-Forum – Ausstellung 06/25
Gegen den Strom
Dieter Krieg im Museum Küppersmühle – kunst & gut 06/25
Women first!
Judy Chicago in Recklinghausen – Ruhrkunst 06/25
In der Kunstküche
„Am Tisch“ und Medienkunst im Dortmunder U – Ruhrkunst 06/25
„Moderne Technologien werden immer relevanter“
Die Leiterin der Kunstvermittlung des ZfIL Unna, Christiane Hahn, über die neue Jahresausstellung – Sammlung 06/25