„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“ sagt der Arme dem Reichen in Bertolt Brechts bekanntem Vierzeiler. Daran habe sich, wie Christoph Butterwegge eröffnete, nicht viel geändert. Damit sei zugleich das einstige Versprechen der Bundesrepublik längst gescheitert: Sozialstaatlichkeit, Bildungsgerechtigkeit, geregelte Erwerbstätigkeiten? „Weder Reichtum noch Armut sollten das Land prägen. Das war, wenn man so will der Gründungsmythos der BRD“, sagte der in den Medien oft als „Armutsforscher“ titulierte Butterwegge.
Der Kölner Politikwissenschaftler forscht zu Themenfeldern wie Rechtsextremismus, Sozialstaat, Globalisierung und vor allem Armut – nicht zuletzt von Kindern und alten Menschen. Mit seinen Positionen tritt er bereits seit Jahren öffentlich auf. Wie es aktuell um die deutsche Gesellschaft bestellt ist, stellte der gebürtige Dortmunder auch im Dietrich-Keuning-Haus im Herzen der Nordstadt klar. Dort war er neben dem Dresdener Politikwissenschaftler Werner Patzelt zur neuen Ausgabe von „Talk im DKH“ mit dem Thema „Deutschland - eine gespaltene Nation?“ eingeladen.
Brechts Sentenz hatte der Armutsforscher bereits in Studien aufgegriffen, wie er auch in der Einleitung erwähnte. In Abgrenzung von Ulrich Becks Rede vom „Fahrstuhleffekt“ (mal fährt die Bevölkerung nach oben, dann wieder nach unten) fasst er die soziale Kluft als „Paternoster-Effekt“ auf: Die einen fahren nach oben, die anderen nach unten. „Diese soziale Spaltung, die nicht vom Himmel fällt, sondern Resultat neoliberaler Politik ist, hat sich so ausgewirkt, dass immer mehr abgehängt werden.“
Diese soziale Polarisierung sei auch eine Folge der Agenda 2010, wie der Wissenschaftler, der in den 70ern bei den Dortmundern Jusos aktiv wurde und 2005 wegen des Schröder-Kurses austrat, betonte: „Das hat damit zu tun, dass diese Gesellschaft sich spaltet, aber auch gespalten wird“, so Butterwegge, der in der Agenda 2010 auch eine ideologische, funktionale Begleiterscheinung sieht. „Wenn du nicht morgens um sechs in der Fabrik bist, dann landest du auch unter der Brücke. Das ist ein Horrorgemälde für die, die noch gar nicht erwerbslos sind.“ Die Folge seien Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse.
Neben dieser Armutsspirale und dem sozialen Druck hätten sich diese Reformen aber auch politisch ausgewirkt: So mache in fast allen Großstädten die Wahlbeteiligung in den ärmeren Teilen nur knapp die Hälfte von der in reicheren Stadtteilen aus – „weil sie zurecht den Eindruck haben, nicht mehr vertreten zu werden.“
Zudem drücken sich diese sozialen Spannungen auch in der Wahl von rechtspopulistischen Parteien aus, ein Thema, zu dem sich auch Werner Patzelt an diesem Abend äußerte. Der Dresdener Politikwissenschaftler sorgte zuletzt mit seiner Arbeit über Pegida für Aufmerksamkeit. „Diese Verbindung von sozialen und ethnischen Konflikten ist eine brisante Mischung“, sagte er mit Blick auf die Asylpolitik der Großen Koalition und den Rechtsruck, der zuletzt auch in der BRD ankam.
„Wenn wir die Probleme nicht vergrößern wollen, müssen wir vermeiden, dass unsere Gesellschaft überfordert wird.“ Dass der Konservative deswegen für eine „gedrosselte Zuwanderung“ und einen vernünftigen schwarz-rot-goldenen Patriotismus als Mittel gegen den Rechtsruck plädierte, kam jedoch weder beim Linken Butterwegge noch bei Teilen des Publikums gut an. Wenn man so will, die Erkenntnis des Abends: Deutschland, ja, eine gespaltene Gesellschaft.
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