Ein leeres Haus wird genutzt, um Waren oder Informationen anzubieten. Man kann von Besetzen sprechen, doch führen die Akteure ihm ja Sinn zu – aber der Besitzer lässt es räumen. Eigentum entscheidet: Auch das ist Herrschaft.
Luca von der Anarchistischen Gruppe Dortmund zeigte mit einer klaren Präsentation nicht zuletzt: „Anarchie“ bedeutet keineswegs „ohne Struktur“. Aufs Schönste gegliedert war auch der Abend, freilich nie ohne Gelegenheit des Publikums, für Fragen oder Kritik zu intervenieren. Markiert im Chat mit kurzem „R“ als virtuellem Handzeichen, denn natürlich lief alles per Stream – über den Anbieter Collocall, nicht wie vielerorts über Zoom; vielleicht weil dieses US-Unternehmen in puncto Datenschutz in der Kritik steht.
Die Darstellung begann mit drei Hauptbegriffen: „Herrschaft“ galt hier als „Möglichkeit, sich gegen den Willen anderer durchzusetzen“. Davon abgegrenzt wurden „Macht“ und „Autorität“, Autorität als Ansehen, das den Mittel-Einsatz wie wohl beim besagten Hausbesitzer ermöglicht, Macht mit dem Hinweis, dass sie als Macht „zu etwas“ (statt über jemanden) durchaus mit Anarchismus vereinbar sei – verwandt dem „empowerment“.
„Menschen zu etwas anderem machen"
Aufschlussreich waren Ausführungen zu „Herrschaftsstrukturen“ oder „Sozialen Hierarchien“. Besagtes Eigentum zählt demnach zu den Strukturen; hinzu komme Gewalt, die sie stütze, oder Zentralisierung, durch die mit Herrschaft ungefähr das passiert, was bei Marx mit dem Kapital geschieht – das Wort von der Akkumulation liegt nahe. Zur „Ideologie“ im Herrschaftssystem formulierte Luca eine persönliche Einschätzung: „Ich denke, die gilt es auch zu bekämpfen.“ Der Begriff der Hierarchien erschloss sich durch die Kriterien und Praktiken, anhand derer gesellschaftliche Gruppen identifiziert und eingeordnet werden – beispielsweise Geschlecht, Intelligenz, Alter oder Rassifizierung. Schön war vorab ein untechnischer Definitionsversuch, was Hierarchisieren bedeute: „Menschen zu etwas anderem machen.“
Eine Teilnehmerin fragte nach der Position des Anarchismus zu Corona oder Klimawandel: Nötig ist demnach gerade auch hier, besagte Herrschaftsstrukturen anzugehen: „Sie stehen einer Lösung im Weg.“ Luca erinnerte hier an die ungenügende Verfügbarkeit von FFP-2-Masken und an Impfstoffe, die durch Patente begrenzt würden.
Tabula rasa
Aber kein Zweifel: So ordentlich die Form, so unaufdringlich der Referent – es geht um Aktion, und zwar um grundlegende. Als man gegen Ende praktisch gelebte Anarchie anvisierte, kamen, neben lokalen Projekten wie Infoladen oder Handelskollektiv, auch die Zapatisten zur Sprache: Die stehen hinter der selbst verwalteten mexikanischen Provinz Chiapas – und deren Wurzeln im Jahr 1994 liegen in einem gewaltsamen Aufstand. Pragmatisch stellte einst die Zeitung „Le Monde“ dazu fest: „Der Aufstand, der in keine der üblichen politischen Kategorien passte, hat politische Fakten geschaffen.“ Der Vortrag stimmte fürs Konsensprinzip bei inneranarchischen Debatten. Gehe es ans Eingemachte, nicht zuletzt wohl ans Eigentum, heiße Anarchie aber auch klare Kante; Luca zur Frage nach einem „globalen Konsens“ etwa beim Klima: „Konsens ist nicht das Ziel.“ Und in Abgrenzung zum verwandten Kommunismus, lernte man, will der Anarchismus keine Zwischenlösung durch eine andere staatliche Autorität, die für Gerechtigkeit sorge, sondern „den Staat sofort abschaffen“. Mit solch einem „Tabula-rasa“-Prinzip mag Anarchismus radikaler als kommunistische Spielarten sein.
Dem digitalen Stream war es geschuldet, einzelne Teilnehmer auf stumm schalten zu müssen, der allgemeinen Verständlichkeit halber: Das geschah nicht ohne freundliche Ankündigung, was leider nicht überall selbstverständlich ist. Nicht jeder, der dieser Tage Streams betreibt, kennt diese sehr wünschenswerte Konvention. An diesem Abend wurde sie gepflegt.
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