Graue Häuserfassade. Trostlose Fenster. Keine Menschenseele auf der Straße. Die Ameise ist zornig. Die Gaststätte in Essen machte sich wohl selbst das Gemüt der Wirtin zunutze, und so entstand der Name des Brauereiausschanks „Zur zornigen Ameise“. Der Fotograf Chargesheimer (Karl Heinz Hargesheimer, 1924–1971) hat das Etablissement in den späten 50er Jahren abgelichtet, grau, schmucklos, unsentimental. Die arbeitenden Menschen konnten sicher damit umgehen, nicht so die Herren Politiker.
Denn genauso hat der Kölner das ganze Ruhrgebiet fotografiert und damit zwar einen sensationellen Schatz an Authentizität hinterlassen, aber bereits sein erster Bildband „Im Ruhrgebiet“ (1958, 28 Seiten Text, 121 Seiten Fotos für 28 Mark), für den er durch die Landschaft ohne blauen Himmel reiste, sorgte für einen Skandal. Ausgerechnet der streitbare Heinrich Böll lieferte den Text und analysierte einen Fortschritt, von dem nur bittere Ironie bleibt, „solange dem Menschen die Elemente: Erde, Luft und Wasser entzogen oder vergiftet werden“. Das ging den Oberbürgermeistern der Region natürlich zu weit. Wilhelm Nieswandt ging in Essen steil, aber auch die Stadtfürsten aus Bochum und Gelsenkirchen mochten diese Negativpresse (siehe Spiegel 4/1959) nicht gelten lassen. Heute liefert genau dieser Berufstand die geschönten Hochglanzfarbfotos zur touristischen Eigenwerbung lieber selbst, geändert hat sich nicht viel. Die Fassaden sind sauberer, der alte Mythos wurde poliert, aber immer noch lebt hier jedes dritte Kind in Armut.
Damals war laut Böll das Ruhrgebiet noch nicht entdeckt. Heute kann man die schwarzweißen Bilder von Chargesheimer in der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein neu erobern. Allein die Menschen auf den Fotografien machen den Besuch von „Chargesheimer – Die Entdeckung des Ruhrgebiets“ nebst umfangreichem Katalog (quasi eine Erweiterung von „Im Ruhrgebiet“) zu einem absoluten Muss voller Genuss. Zugegeben, viel Freude scheint auf den Bildern nicht zu entdecken zu sein. Kuratorin Stefanie Grebe zeigt sogar doppelt so viele Bilder, wie im Katalog zu sehen sind, und dennoch die Grundstimmung bleibt herrlich kohlenstaubig auf mitteldichter Faserplatte. Die Menschen definieren sich zwangsläufig über Arbeit, da bleibt es bei ein paar wenigen Falten des Lächelns. Ernst blicken sie an den Maschinen, ernst beim Einkaufen, und dennoch strömt eine undefinierbare Würde aus den Aufnahmen am Arbeitsplatz, Konzentriertheit bei den privaten Details, selbst beim Sonntagsspaziergang im Stadtpark oder beim Wetten auf der Trabrennbahn verliert sich dieses Gefühl scheinbar nicht. Und die armen Kinder? Sie spielten Fußball auf dreckigen Hinterhöfen und auf grauen Wiesen im Angesicht rauchender Schlote. Dennoch habe ich den eigentümlichen Geruch dieser Zeit bis heute in der Nase, sehe noch die Frauen in den fleckigen Kitteln und die Männer sonntags aufgeputzt mit der klebrigen Pomade im Haar. Nur Onkel Kalla saß immer „bei die Tauben“. Für uns Kinder war es eine tolle Zeit.
„Chargesheimer – Die Entdeckung des Ruhrgebiets“ | bis 18.1.15 | Ruhr Museum, Zollverein Essen | 0201 24 68 14 44
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Futter fürs Bildgedächtnis
Pixelprojekt-Neuaufnahmen in Gelsenkirchen – Ruhrkunst 08/23
Digital natürlich
New Now Festival auf Kokerei Zollverein – Ruhrkunst 07/23
Weltreise digital
Daniela Comani im Museum Folkwang – Ruhrkunst 04/23
Mit französischem Blick
„Hände weg vom Ruhrgebiet!“ im Essener Ruhr Museum – Kunstwandel 04/23
Steinewerfer auf der Leiter
Barbara Klemm in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Kunstwandel 03/23
Blicke hinter die Abwasserrinne
„Beyond Emscher“ in der Kokerei Zollverein in Essen – Kunstwandel 11/22
Blicke hinter die Abwasserrinne
„Beyond Emscher“ in der Kokerei Zollverein – Kunstwandel 09/22
Identitäten auf dem einen Planeten
Fotografischer Blick auf die afrikanische Welt – Kunstwandel 09/22
Avantgardistische Bauten
Irmel Kamp und Andreas Rost im Baukunstarchiv – Ruhrkunst 09/22
„Ihr ging es immer um Ambivalenzen und Widersprüche“
Linda Conze über das Werk von Evelyn Richter – Sammlung 09/22
In Bildwelten tauchen
Fotosammlung Museum Ostwall trifft junge Fotobuch-Kunst – Ruhrkunst 08/22
„Beobachten und Reagieren auf Realität“
Christin Müller über die Dokumentarfotografie-Ausstellungin Essen – Sammlung 03/22
„Obwohl wir Energie verbrauchen, strahlen alle Arbeiten Energie aus“
Museumsdirektor John Jaspers über„Energy / Energie“in Unna und Soest – Sammlung 12/23
Masken und Gesichter
Christoph M. Gais im Museum Küppersmühle in Duisburg – kunst & gut 11/23
Konkret gemalt
„Colours and Lines in Motion“ in Gelsenkirchen – Ruhrkunst 11/23
Kasse machen mit dem Teufel
„Tod und Teufel“ im Museum Kunstpalast – Kunstwandel 11/23
Tauchgang in die Kunstwelt
Das Dive-Festival in Bochum – Kunst 11/23
„Toll für die Stadt, dass wir dieses Museumsgebäude haben“
Kuratorin Julia Lerch Zajączkowska über die Jubiläumsausstellung des Kunstmuseums Bochum – Sammlung 11/23
Auf nach Phantásien!
Illustrationen zu Michael Endes Geschichten in Oberhausen – Ruhrkunst 10/23
Leuchtende Herbstnacht
6. Nacht der Lichtkunst im östlichen Ruhrgebiet – Kunst 10/23
Aufbruch und Experiment in Paris
Meisterwerke der Druckgraphik im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 10/23
„Horror ist ein Werkzeug, um gegen bestimmte Normen zu agieren“
Kuratorin Westrey Page über „Tod und Teufel“ im Kunstpalast Düsseldorf – Sammlung 10/23
Im Herzen des Bunkers
Marianne Berenhaut in Recklinghausen – Ruhrkunst 09/23
Zur Liebe
„love/love“im Künstlerhaus Dortmund – Ruhrkunst 09/23
Auf Zeitreise
„Ein Blick zurück“ im Lehmbruck Museum in Duisburg – Ruhrkunst 09/23