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Chargesheimer, aus dem Projekt „Im Ruhrgebiet“, 1957/1958, Rheinisches Bildarchiv Köln

Arbeit, Staub und Spaß

31. Juli 2014

Essener Ruhrmuseum auf Zollverein zeigt „Chargesheimer – Die Entdeckung des Ruhrgebiets“ – Kunstwandel 08/14

Graue Häuserfassade. Trostlose Fenster. Keine Menschenseele auf der Straße. Die Ameise ist zornig. Die Gaststätte in Essen machte sich wohl selbst das Gemüt der Wirtin zunutze, und so entstand der Name des Brauereiausschanks „Zur zornigen Ameise“. Der Fotograf Chargesheimer (Karl Heinz Hargesheimer, 1924–1971) hat das Etablissement in den späten 50er Jahren abgelichtet, grau, schmucklos, unsentimental. Die arbeitenden Menschen konnten sicher damit umgehen, nicht so die Herren Politiker.

Denn genauso hat der Kölner das ganze Ruhrgebiet fotografiert und damit zwar einen sensationellen Schatz an Authentizität hinterlassen, aber bereits sein erster Bildband „Im Ruhrgebiet“ (1958, 28 Seiten Text, 121 Seiten Fotos für 28 Mark), für den er durch die Landschaft ohne blauen Himmel reiste, sorgte für einen Skandal. Ausgerechnet der streitbare Heinrich Böll lieferte den Text und analysierte einen Fortschritt, von dem nur bittere Ironie bleibt, „solange dem Menschen die Elemente: Erde, Luft und Wasser entzogen oder vergiftet werden“. Das ging den Oberbürgermeistern der Region natürlich zu weit. Wilhelm Nieswandt ging in Essen steil, aber auch die Stadtfürsten aus Bochum und Gelsenkirchen mochten diese Negativpresse (siehe Spiegel 4/1959) nicht gelten lassen. Heute liefert genau dieser Berufstand die geschönten Hochglanzfarbfotos zur touristischen Eigenwerbung lieber selbst, geändert hat sich nicht viel. Die Fassaden sind sauberer, der alte Mythos wurde poliert, aber immer noch lebt hier jedes dritte Kind in Armut.

Damals war laut Böll das Ruhrgebiet noch nicht entdeckt. Heute kann man die schwarzweißen Bilder von Chargesheimer in der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein neu erobern. Allein die Menschen auf den Fotografien machen den Besuch von „Chargesheimer – Die Entdeckung des Ruhrgebiets“ nebst umfangreichem Katalog (quasi eine Erweiterung von „Im Ruhrgebiet“) zu einem absoluten Muss voller Genuss. Zugegeben, viel Freude scheint auf den Bildern nicht zu entdecken zu sein. Kuratorin Stefanie Grebe zeigt sogar doppelt so viele Bilder, wie im Katalog zu sehen sind, und dennoch die Grundstimmung bleibt herrlich kohlenstaubig auf mitteldichter Faserplatte. Die Menschen definieren sich zwangsläufig über Arbeit, da bleibt es bei ein paar wenigen Falten des Lächelns. Ernst blicken sie an den Maschinen, ernst beim Einkaufen, und dennoch strömt eine undefinierbare Würde aus den Aufnahmen am Arbeitsplatz, Konzentriertheit bei den privaten Details, selbst beim Sonntagsspaziergang im Stadtpark oder beim Wetten auf der Trabrennbahn verliert sich dieses Gefühl scheinbar nicht. Und die armen Kinder? Sie spielten Fußball auf dreckigen Hinterhöfen und auf grauen Wiesen im Angesicht rauchender Schlote. Dennoch habe ich den eigentümlichen Geruch dieser Zeit bis heute in der Nase, sehe noch die Frauen in den fleckigen Kitteln und die Männer sonntags aufgeputzt mit der klebrigen Pomade im Haar. Nur Onkel Kalla saß immer „bei die Tauben“. Für uns Kinder war es eine tolle Zeit.

„Chargesheimer – Die Entdeckung des Ruhrgebiets“ | bis 18.1.15 | Ruhr Museum, Zollverein Essen | 0201 24 68 14 44

PETER ORTMANN

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