Eine Reise entlang der Ruhr soll es werden. Das Sommerstories-Projekt der Gegenwartsliteratur-Zeitschrift „Richtungsding“ sucht nach dem idealen Konzept für sommerliche Open Air-Lesungen. Für die verschiedenen Orte am Ruhr-Ufer werden GPS-Daten angegeben. Die jüngste Sommerstories-Lesung fand nun an der Regattabahn am Baldeneysee statt. Dem 2010 ins Leben gerufenen Richtungsding-Projekt für junge Gegenwartsliteratur geht es vor allem darum, neben anderen Literaturinstitutionen in der Region, eine unabhängige Plattform für unkonventionelle Formen von Literatur zu ermöglichen. Dafür stand an diesem Abend in gewisser Weise auch das Setting am Baldeneysee. Sommerliche Stimmung kündigte jedoch nur die Lesung an, eine diesige, frühherbstliche Luft legte sich stattdessen unter den an diesem Tag immergrauen Himmel.
Engel und Wölfe bei Fabian Wolbring
Die „Literaturbühne“ an der Regattabahn erschien auch weniger still und viel hektischer als erwartet: Vorbeifliegende Flugzeuge, Feierabendabbaugeklirr einer Imbiss-Bude und die Nebengeräusche flanierender PassantInnen. Vor allem auch interessierte, neugierige Blicke wurden von der Lesung an diesem Abend evoziert, ein „Zurückgeworfensein auf Orte“, wie es Richtungsding-Redakteur Jan-Paul Laarmann, der die Lesung moderierte, umschrieb.
Diese begann zunächst mit Fabian Wolbrings Erzählung „Von Engeln und Wölfen“. Ein befremdlich klingender Duktus ist es, wenn sich der Sohn in einem Vater-Sohn-Konflikt dem Vater gegenüber mit „dein verfickter Sohn“ tituliert. Derbe Umgangssprache und ein Schwall von souverän durchgezogenem Mottenkistenvokabular werden kontrastiert. Parabolisch wurde auch Herrschaft behandelt, etwa in Anlehnung an Hobbes: „Der Engel ist des Engels Wolf“. Gleichzeitig wird der Stil und der erzählerische Kosmos gebrochen, so heißt es am Ende: „Da bist Du ja wieder, mein ordnender Jambus.“
Zeitentfremdung und Fremdfirmenausweiswesen
Fabian May stellte seinem Beitrag in der Anmoderation ein Sprichwort voran: „Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit.“ Denn um Zeit als existentielles Problem ging es auch in seiner klassischen Detektivgeschichte. Eine Frau heuert einen Detektiv an, ihr Mann ist ständig, auch nachts unterwegs. Was ermittelt wird, ist auch eine Entfremdung von der Lebenszeit vor lauter Arbeitszeit. Befremdlich wirkte auch das, was Stephan Hermsen in seiner witzigen Parabel über ein Fremdfirmenausweiswesen bei Thyssen-Krupp zu Wattenscheid vortrug – mit einer kafkaesk anmutenden Aufforderung, dass kein Fremder durch das Tore gehe ohne Ausweis.
Ähnlich sonderlich wirkte letztendlich wohl auch die Gruppe Literaturaffiner für die SpaziergängerInnen am Baldeneysee, die den facettenreichen Erzählungen lauschte. Bis die Sommerstories, wie Moderator Laarmann bemerkte, pünktlich zum Sonnenuntergang zu Ende waren. Im September geht es weiter entlang der Ruhr. Dann wird in Witten gelesen.
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