Ingeborg Lüschers Version des historischen Bernsteinzimmers ist eine feurige Wucht. Die Künstlerin, der die Situation Kunst/MuT gerade eine Einzelschau widmet, konzipierte von 2001 bis 2004 einen orange leuchtenden Raum im Raum, 4 x 4 Meter groß, mit Wänden aus 9.000 Seifenstücken. Damit schuf sie nicht nur ein etwas subversives Pendant zum verschollenen edlen Original, sondern den Anlass für die erste Kooperation zwischen MuT und Kunstmuseum. In ihrer ersten Ausstellung für Bochum versammelt die neue Museumsleiterin Noor Mertens rund um Lüschers Kubus Werke von sechs international renommierten Künstlerinnen. Sieben auf einen Streich – ein starker Auftakt in neuem Stil: assoziativ ausgewählt und arrangiert, ohne gemeinsames Thema, ohne viele Worte.
Die 20 meist mehrteiligen Werke ranken sich um Körperlichkeit, Raum- und Zeiterfahrung, zeigen rätselhafte Handlungen, Ornamente und Objekte zwischen Spiel und Gewalt. Verbindungen gibt es dennoch. Neben dem Bernsteinzimmer richtet Silvia Bächli ihr „Rotes Zimmer“ aus dezenten Linienrastergeflechten auf Papier ein und stellt Tischvitrinen mit Zeichnungen von Körperteilen dazu. Zofia Kuliks ornamentale Fotomontagen prangen neben Alexandra Birckensbrutalen Hängeobjekten an Fleischerhaken. Auf dem Boden darunter zieht ein Rasenroboter seine Kreise.
Die FranzösinLaure Prouvost steuert ihre Videoadaption von Kafkas „Verwandlung“ bei, basierend auf der abstrusen Übersetzung eines Engländers mit miesen Deutschkenntnissen. Verständlich, dass bei der Übertragung viel verloren ging. Chantal Akermans Film „Saute maville“ hat hingegen einen klaren Plot: Munter trällernd zerlegt eine Frau ihre Küche, reißt Töpfe, Putz- und Nahrungsmittel aus den Schränken und jagt alles zum Schluss mit Gas in die Luft.
Die Schau hat Power, weil der Parcours die Spannung hält und vieles völlig offenlässt, darunter die titelgebende Frage: Warum ist nicht alles schon verschwunden? Joëlle Tuerlinckx aus Brüssel beantwortet dies auf ihre Weise, indem sie in jede ihrer Präsentationen Relikte ihrer vergangenen Ausstellungen einbindet: Skizzen, Modelle, Wandverkleidung, kreisrunde Papp- und Holzausschnitte. Erst, wenn sie die Papierrelikte als Buch final archiviert, ist das, wie sie sagt, das „end of the story“.
Warum ist nicht alles schon verschwunden? | bis 13.3.22 | Kunstmuseum Bochum | 0234 91042 30
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Das Rätsel des roten Steins
Inventur im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 02/23
Kulissen und Kojoten
Ian Page im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 10/22
Brauchtum im 21. Jahrhundert
„Von den Vorfahren geleckt“ im Bochumer Kunstmuseum – Kunstwandel 04/22
Eine unerwartete Erbschaft
„Kunst lesen“ in Bochum
„Er war fürchterlich enttäuscht von Picasso“
Sepp Hiekisch-Picard über die Ausstellung zu Anselme Boix-Vives – Sammlung 09/21
Winzige Welten
Friederike Klotz im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 08/21
Fotografie über Fotografie
Stefan Hunstein im Kunstmuseum Bochum – Kunst in NRW 03/21
Der Strand war nicht das Ende
The Cast Whale Project im Bochumer Museum – Kunstwandel 09/20
Vom Anfang her
Abraham David Christian im Kunstmuseum Bochum – kunst & gut 07/20
Wiedersehen und Neuentdecken
Die eigene Sammlung im erweiterten Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 06/20
„Eine Schatzkammer für Kunst“
Direktor Hans Günter Golinski über die Sammlung des Kunstmuseums Bochum – Sammlung 04/20
Geordnete Verwehungen
Evelina Cajacob im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 02/20
Aus dem Eis
Video-Installationen aus Spitzbergen in Recklinghausen – Ruhrkunst 03/23
Schütten statt Pinseln
Helen Frankenthaler im Museum Folkwang – Ruhrkunst 01/23
Neues im Quadrat
Josef Albers in Bottrop – Ruhrkunst 12/22
Bilder des Glücks
„Entdecke Minhwa“ im LSI Bochum – Ruhrkunst 11/22
Junge Schwarze Formensprache
Dozie Kanu im Neuen Essener Kunstverein – Ruhrkunst 11/22
Avantgardistische Bauten
Irmel Kamp und Andreas Rost im Baukunstarchiv – Ruhrkunst 09/22
In Bildwelten tauchen
Fotosammlung Museum Ostwall trifft junge Fotobuch-Kunst – Ruhrkunst 08/22
Der Charme des Unbeständigen
„Blade Memory II“ im Dortmunder Kunstverein – Ruhrkunst 07/22
Durch die Blume
„Flowers!“ in der Kunst ab 1900 im Dortmunder U – Ruhrkunst 06/22
Nackte Mannsbilder
„Eros in Erwartung der Ewigkeit“in Duisburg – Ruhrkunst 05/22
Auf Fuchs’ Fährte
Fabian Reimann im Kunstverein Ruhr – Ruhrkunst 04/22