trailer: Frau Hitzke, hat die Südosterweiterung der EU die Arbeit der Mitternachtsmission verändert?
Andrea Hitzke: Der Zuzug von Prostitutionsmigrantinnen, die versuchen ihre Familien im Heimatland durch den Prostitutionslohn zu ernähren, hat sich dramatisch erhöht. Für die Mitternachtsmission bedeutet das, eine Klientel zu beraten und zu betreuen, die arm ist und überwiegend keine Deutschkenntnisse und keine Ausbildung hat. Die Frauen werden oft zum Opfer von Kriminellen, auch Menschenhändlern, weil sie sich mit den Gesetzen und Vorschriften unseres Landes nicht auskennen. Hinzu kommt das fehlende Vertrauen in die Ämter und Behörden, besonders in die Polizei. Kenntnisse über sexuell übertragbare Krankheiten und Verhütung sind oft minimal. Viele der Frauen bringen Kinder mit oder gebären Kinder hier. Das bringt ein weiteres Arbeitsfeld mit großen Problemen mit sich. Viele der Frauen kommen mit dem dringenden Wunsch nach Ausstieg aus der Prostitution. Aufgrund der aktuellen rechtlichen Situation der Frauen aus Bulgarien und Rumänien, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben und in der Regel nicht abhängig beschäftigt werden, haben wir aber zurzeit nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten bei Ausstiegshilfen.
Die Mitternachtsmission hat einen erhöhten Bedarf an Sprachmittlerinnen und Streetworkerinnen, die die kulturellen Besonderheiten verstehen und angemessen handeln können. Hinzu kommt der finanzielle und materielle Aufwand durch diese sehr arme Klientel. Adäquates sozialarbeiterisches Handeln ist nur möglich, wenn Grundbedürfnisse zumindest ansatzweise gestillt werden können. Das bedeutet, dass wenigstens Mittel für die situationsbedingte Versorgung mit Lebensmitteln, Kindernahrung, Kleidung und Medikamenten vorhanden sein müssen. Da die Mitternachtsmission diese und die für Sprachmittlerinnen und Streetworkerinnen notwendigen Mittel ausschließlich aus Spenden finanziert, wird die finanzielle Lage zunehmend kritisch.
Welche Arbeitsbedingungen haben die Frauen aus Bulgarien und Rumänien in Dortmund?
Bulgarinnen und Rumäninnen, die hier der Prostitution nachgehen, unterliegen den gleichen Vorschriften und Gesetzen wie andere Arbeitsmigrantinnen. In ihrem speziellen Falle dürfen sie zurzeit nur als Selbstständige und nicht als abhängig Beschäftigte der Prostitution nachgehen. Die Voraussetzung für eine selbstständige Tätigkeit liegt bei den meisten wegen mangelnder Sprach- und fehlender Rechtskenntnisse aber nicht vor. Sie gehen daher oftmals illegal, ohne Krankenversicherung, ihrer Tätigkeit nach, viele werden ausgebeutet, zum Teil an versteckten Orten. Sie wohnen häufig in heruntergekommenen Häusern zu überhöhten Mieten. Oft sind sie Opfer von brutalen Prostitutionskunden und von Zuhältern. Sie werden zudem von Teilen der Bevölkerung und Anwohnern der Viertel – besonders in solchen, wo die Prostitution auf der Straße stattfindet – abgelehnt, sogar verachtet und beschimpft.
Welche Auswirkungen hat der Zuzug von Frauen aus der EU für die Prostituierten, die hier schon lange leben?
Prostituierte, die hier schon lange leben, leiden unter der zumeist billigeren und aggressiveren Konkurrenz und werden verdrängt. Das trifft besonders auf die Straßenprostitution zu. Wir konnten einen verstärkten Bedarf an Ausstiegsberatung verzeichnen. In Dortmund arbeiten die Betreiber von Bordellen und in der Linienstraße nach dem „Dortmunder Modell“: Das heißt, sie kooperieren mit der Mitternachtsmission, Ämtern und Behörden. Sie achten sehr darauf, dass in ihren Häusern alles legal zugeht, dass die Frauen zum Beispiel gültige Papiere haben, ihre Steuern zahlen und Zuhälter keinen Zutritt zu den Arbeitsplätzen haben. Besteht der Verdacht, dass eine Frau Opfer von Menschenhandel oder minderjährig ist, wird die Mitternachtsmission benachrichtigt, die dann mit Hilfe von Sprachmittlerinnen herausfindet, ob dieser Verdacht begründet ist. Die Mitternachtsmission hat jederzeit freien Zugang zu allen Einrichtungen.
Unterstützen Sie Verbote wie die Ausweitung von Sperrbezirken?
Wir unterstützen nicht generell die Ausweitung von Sperrbezirken. In Dortmund hat sie allerdings eine spürbare Erleichterung für die Bewohner der betroffenen Stadtbezirke gebracht. Der Zuzug von Prostitutionsmigrantinnen im Bereich der Straßenprostitution hat sich verringert oder auf andere Städte verlagert. Es ist uns bewusst, dass dies keine grundsätzlich zufriedenstellende Problemlösung ist – aber eine deutliche Erleichterung für die Situation in Dortmund.
Welche Maßnahmen wären sinnvoll, um die entstandenen Probleme zu lösen?
Die Städte Dortmund und Duisburg, die Ziel besonders armer und bildungsferner Gruppen aus den neuen EU-Ländern sind, entwickeln zurzeit Konzepte für Lösungsmöglichkeiten zur Integration der neuen Zuwanderinnen. Bereits getroffene Integrations- und Versorgungsmaßnahmen reichen allerdings nicht aus und führen zu massiver finanzieller Überforderung der Kommunen. Hier müssen auf Bundes- und EU-Ebene Maßnahmen getroffen werden. Wir denken, dass die Probleme in erster Linie in den Herkunftsländern gelöst werden müssen. Hier sollten EU-Mittel unter anderem in Bildungsmaßnahmen und Beschäftigungsprogramme – besonders für die diskriminierten Randgruppen wie Roma – fließen und deren Anwendung stringent überwacht werden.
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