
trailer: Herr Heidenreich, ist eine gerechte oder gerechtere Gesellschaft möglich?
Martin Heidenreich: Gerechtigkeit ist eine normativ-philosophische Betrachtungsweise und da kann ich als Soziologe wenig zu sagen. Für uns geht es eher um Gleichheit bzw. Ungleichheit. Jeder und jede soll die gleichen Startchancen haben, aber das kann dann durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen, also zu Ungleichheiten, führen. Das heißt, Ungleichheiten sehen die Soziologen nicht per se als ungerecht an.
Und ist Deutschland eine ungleiche Gesellschaft?
Das hängt vom Indikator ab. Bezogen auf die Einkommensungleichheit eher nicht, denn die ist in Deutschland relativ gering. Im Vergleich mit Großbritannien, den USA, China, Indien oder gar Südafrika ist Deutschland eher eine gleiche Gesellschaft. Wenn wir also von Einkommensungleichheit reden, liegen wir im europäischen Rahmen im Mittelfeld. Wir können daher m.E. sehr stolz auf unseren Sozialstaat sein, da dieser in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Betrag zur Abfederung und Bewältigung der Wiedervereinigung, des industriellen Strukturwandels, der Globalisierung und der Integration von Millionen von Zuwanderern geleistet hat.
Das heißt, die Debatten um Ungleichheit und Armut entsprechen nicht den Tatsachen?
Wir sollten schon zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland und auch Europa als Ganzes relativ egalitär sind. Die Einkommensungleichheiten und Armutsquoten in Deutschland sind seit 2010 weitgehend stabil. Die Angst vor Altersarmut ist noch weitgehend unbegründet; ältere Menschen sind in der Regel gut abgesichert – auf jeden Fall besser als Alleinerziehende. Bei Älteren liegt die Armutsquote bei etwa 19 Prozent, d.h. sie ist etwas höher als im Bevölkerungsdurchschnitt (15-16 Prozent). Die öffentliche Debatte um die Vermeidung von Altersarmut durch Haltelinien, Respektrente, Mütterrenten hat somit einen leichten populistischen Einschlag. Sozialpolitisch sinnvoller wäre es m.E., sich auf eine bessere Arbeitsmarktintegration von Älteren, Migranten und Menschen ohne Bildungsabschluss und die bessere Absicherung von Alleinerziehenden zu konzentrieren.
„Besonders hoch ist in Deutschland die Vermögensungleichheit“
Woher kommt die wahrgenommene Ungleichheit?
Erst einmal können Menschen weniger haben, auch wenn die Ungleichheiten gleich bleiben. Weiterhin gibt es neben finanzieller Ungleichheit noch zahlreiche andere Ungleichheiten. Besonders bedrückend sind für mich der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die Ausgrenzung von Menschen ohne Bildungsabschluss. Besonders hoch ist in Deutschland auch die Vermögensungleichheit, die im Alltag ja vor allem bedeutet, ob sich Menschen eine eigene Unterkunft leisten können oder nicht. Um daran etwas zu ändern, muss man sich mit Fragen wie der höheren Besteuerung von Vermögen beschäftigen. Diese hat man 1997 unnötigerweise ausgesetzt. Auch die konsequente Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist wichtig. Bei der Erbschaftssteuer gibt es ebenfalls sehr viele Schlupflöcher, die man schließen könnte: Sie können in Deutschland riesige Vermögen erben, ohne einen einzigen Euro Steuern zu zahlen.
„Arbeit ist mehr als nur Leistung“
Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) da Abhilfe schaffen?
Ich bin aus normativen Gründen dagegen. Für mich ist Arbeit ein zentraler Ort der Vergesellschaftung. In diesem Punkt bin ich quasi klassischer Marxist. Wenn Menschen von Erwerbsarbeit als einer zentralen Sphäre der anerkannten Arbeit ausgeschlossen werden, dann fördert man Vereinsamung und sozialen Rückzug. Arbeit ist mehr als nur Leistung, Arbeit bedeutet soziale Beziehungen, soziale Einbindung gesellschaftliche Wertschätzung. Ein BGE würde meiner Meinung nach daher die Spaltung der Gesellschaft vorantreiben. Auch aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive sehe ich es nicht als sinnvoll an: Wie kann man mit dem gigantischen Arbeitskräftebedarf, den ich für die Zukunft erwarte, zurechtkommen bei einem BGE? Wir werden verzweifelt Arbeitskräfte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten brauchen, um etwa die Infrastruktur zu sanieren, um die ökologische Sanierung zu stemmen, um Deutschland verteidigungsfähig zu machen, um den höheren Anteil älterer Menschen zu betreuen. Für all dies braucht es Leute.
Wir können uns ein BGE somit nicht leisten?
Finanziell wahrscheinlich schon, ich halte es nur nicht für wünschens- oder erstrebenswert. Finanzierbar hingegen ist es, sollte sich also die Gesellschaft dafür entscheiden, wird die Finanzierung m.E. möglich sein.
„Meritokratische Ungleichheit“
Sie haben von gleichen Startchancen gesprochen, sehen Sie die als gegeben an?
Nein, ganz und gar nicht. Ich beobachte eine zunehmende Bedeutung einer leistungsbezogenen, meritokratischen Ungleichheit. Früher wurden Menschen benachteiligt, zum Beispiel, weil sie Frauen oder Ausländer waren. Das sollte hoffentlich jedem halbwegs klar denkenden Menschen einsichtig sein, dass Frauen nicht weniger verdienen sollten als Männer. Die Ungleichheit basierte hier auf zugeschriebenen Eigenschaften.
Und heute?
Es gibt eine neu entstandene Ungleichheitsachse zwischen Leuten, die erfolgreich sind im Bildungssystem, und Leuten, die im Bildungssystem scheitern. Da geht es um Bildungsarmut. Nicht nur grenzt man damit Leute aus, man gibt ihnen noch viel stärker als bei zugeschriebenen Eigenschaften die Schuld an ihrer Situation: „Ihr habt es nicht gepackt im Bildungssystem, ihr verdient es, dass ihr auf der Verliererseite steht.“ Zusätzlich zu dem Schaden hat man die Scham, die verinnerlichte Schuld, die man den Leuten mitgibt. Dies haben der französische Soziologe D. Eribon ebenso wie der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance in sehr persönlich gehaltenen Büchern eindrucksvoll beschrieben.
Was kann man dagegen tun?
Das ist die schwierige Frage. Der Staat muss in die Qualifikation seiner Bürgerinnen und Bürger investieren, er muss in die Fähigkeiten von Menschen investieren, damit diese nicht ein Leben lang auf der Verliererseite stehen. Insbesondere in gefährdete Gruppen, wie beispielsweise Geflüchtete. Oder in Schulabbrecher. Insgesamt haben 13 Prozent eines Jahrgangs keine adäquate Qualifikation für unsere Wissensgesellschaft, wie mein Kollege Markus Grabka herausgefunden hat. Dies ist ein schwieriges Thema, weil es nicht nur für Schulen eine Herausforderung ist. Bamberger Bildungssoziologinnen und -soziologen haben herausgefunden, dass Bildungsungleichheiten weitgehend in der Familie erzeugt werden. Im Schulsystem vergrößern sie sich kaum, aber sie verringern sich auch nicht. Damit rücken Familien als zentrale Orte der Erzeugung von Ungleichheit in den Mittelpunkt.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Kli Kla Klacks
Intro – Genug für alle
Gleiches Recht für alle!
Teil 1: Leitartikel – Aufruhr von oben im Sozialstaat
Klassenkampf im Quartier
Teil 1: Lokale Initiativen – Bochums Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Stahlhausen
Gerechtigkeit wäre machbar
Teil 2: Leitartikel – Die Kluft zwischen Arm und Reich ließe sich leicht verringern – wenn die Politik wollte
„Je größer das Vermögen, desto geringer der Steuersatz“
Teil 2: Interview – Finanzwende-Referent Lukas Ott über Erbschaftssteuer und Vermögensungleichheit
Gegen die Vermüllung der Stadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Umweltschutz-Initiative drängt auf Umsetzung der Einweg-Verpackungssteuer
Die Mär vom Kostenhammer
Teil 3: Leitartikel – Das Rentensystem wackelt, weil sich ganze Gruppen der solidarischen Vorsorge entziehen
„Die gesetzliche Rente wird von interessierter Seite schlechtgeredet“
Teil 3: Interview – VdK-Präsidentin Verena Bentele über eine Stärkung des Rentensystems
Der Kitt einer Gesellschaft
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Landesverband des Paritätischen in Wuppertal
Der Staat will zuhören
Wandel im niederländischen Sozialsystem – Europa-Vorbild: Niederlande
Armutszeugnis im Reichtum …
… und alternative Fakten im Wirtschaftssystem – Glosse
„Als könne man sich nur mit Waffen erfolgreich verteidigen“
Teil 1: Interview – Der Ko-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung über waffenlosen Widerstand
„Besser fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir?“
Teil 2: Interview – Philosoph Olaf L. Müller über defensive Aufrüstung und gewaltfreien Widerstand
„Das ist viel kollektives Erbe, das unfriedlich ist“
Teil 3: Interview – Johanniter-Integrationsberaterin Jana Goldberg über Erziehung zum Frieden
„Ich glaube schon, dass laut zu werden Sinn macht“
Teil 1: Interview – Freie Szene: Die Geschäftsführerin des NRW Landesbüros für Freie Darstellende Künste über Förderkürzungen
„Mich hat die Kunst gerettet“
Teil 2: Interview – Der Direktor des Kölner Museum Ludwig über die gesellschaftliche Rolle von Museen
„Kultur muss raus ins Getümmel“
Teil 3: Interview – Philosoph Julian Nida-Rümelin über Cancel Culture und Demokratie
„Das Gefühl, Berichterstattung habe mit dem Alltag wenig zu tun“
Teil 1: Interview – Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing über Haltung und Objektivität im Journalismus
„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 2: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
„Nicht das Verteilen von Papier, sondern Journalismus fördern“
Teil 3: Interview – Der Geschäftsführer des DJV-NRW über die wirtschaftliche Krise des Journalismus
„Die Chancen eines Verbotsverfahren sind relativ gut“
Teil 1: Interview – Rechtsextremismus-Forscher Rolf Frankenberger über ein mögliches Verbot der AfD
„Man hat die demokratischen Jugendlichen nicht beachtet“
Teil 2: Interview – Rechtsextremismus-Experte Michael Nattke über die Radikalisierung von Jugendlichen
„Radikalisierung beginnt mit Ungerechtigkeitsgefühlen“
Teil 3: Interview – Sozialpsychologe Andreas Zick über den Rechtsruck der gesellschaftlichen Mitte