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Grauer Mann, bunter Nippes: Sarrazin nach der Veranstaltung
Foto: Rike Gebhardt

Mittelalterliche Zahlenmystik

21. Juni 2016

Thilo Sarrazin und Wolfgang Bosbach in Gut Mausbeck, Bochum am 19.6.

Sie bleiben lieber unter sich. Sie leben in ethnisch homogenen Gruppen und zeigen eine hohe Affinität für Autoritäten, das ergibt sich aus ihrer Kulturgeschichte. Was bedeutet das für die Integration? Das wird man ja wohl noch fragen dürfen. Ja, das wird man sich fragen müssen, wenn rund 150 Bochumer Beifall klatschen für unverhohlenen Rassismus. Am 19. Juni sprach Thilo Sarrazin mit Wolfgang Bosbach (CDU) in der Scheune des Restaurants Gut Mausbeck im ländlichen Bochum-Gerthe. Der Talkshow-Beauftragte der Union trifft auf Graf Zahls rassistischen Opa – ein lehrreicher Abend. Denn hier sieht man Demagogen bei der Arbeit.

 

Da ist einmal Wolfgang Bosbach: medienaffin, redegewandt, seit zwei Jahren Talkshowkönig unter den Politikern, mit 11 Auftritten in 2015. Freundlich lächelnd und grüßend betritt er die brechend volle Scheune. Auf der Bühne spricht er ins Publikum, schmückt seine Argumente mit heiteren Anekdoten, stellt eine persönliche Ebene zu seinen Zuhörern her, macht sich sympathisch. Auch wenn man die Ansichten des konservativen CDU-lers nicht teilt: seine Überzeugungskraft ist kein Wunder. Ganz anders Thilo Sarrazin: Der graue Mann verschwindet fast neben seinem Bär von Begleitschutz, auf dem Weg Richtung Bühne wirkt er unsicher, mehr damit beschäftigt, rasch seinen Sitzplatz zu erreichen, als Blickkontakt zu den Fans zu halten. Und, ebenfalls anders als Bosbach, ist er weder schlagfertig noch ein großer Redner: Von den auch an diesen Abend immer wieder auftauchenden „Kopftuchmädchen“ abgesehen, spricht er nie in Bildern, nur von Zahlen. Sarrazin ist der unrhetorische Mensch schlechthin, mit der Aura eines grimmigen Mathelehrers und einer nahezu autistischen Neigung für kuriose Rechen-Abenteuer. Wie konnte diese unscheinbare Gestalt zur Galionsfigur eines neurechten Bürgertums werden? Was ist der geheime Zauber von Mr. Judengen?

 

Zaubertricks mit Mathe

 

Nun, immerhin dauert es geschlagene 45 Minuten, bis zum ersten Mal das Wort „Kopftuch“ fällt. Brexit, Griechenland, Sarrazins und Bosbachs Meinung zum Thema Volksentscheide – die erste Dreiviertelstunde des Gesprächs, moderiert von Phoenix-Nachrichtensprecher Michael Krons, verläuft ereignislos. Doch auf einmal ist man bei der „Flüchtlingskrise“ und apokalyptischen Überbevölkerungsszenarien. Mathematik macht's möglich: Man nehme eine Millionen Einwanderer, multipliziere sie mit dem Faktor Fünf („Eine ganz belastbare Zahl aus der Vergangenheit“), schüttele einmal gut durch und – voilá – Deutschland hat sich abgeschafft. Aus Haftungsgründen bitte nie vergessen: den Disclaimer „Es ist eine Modellrechnung – keine Prognose.“ „Aber eine Wirkung hat das ja“, hakt Krons ein. Sarrazin: „Ja, natürlich.“ Und ja, ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen. Das Ende des Abendlandes, es ist nah. Was ist geschehen? Nun, mit den eine Millionen Einwanderern meint Sarrazin die Geflüchteten, die 2015 Deutschland erreicht haben. Das stimmt soweit ja noch. Die mysteriöse Geheimzutat „Faktor 5“ meint: die fünf Kinder, die türkische Gastarbeiter-Familien im Durchschnitt in die Welt gesetzt haben. Diese Zahl überträgt Sarrazin auf die höchste Einwanderungsrate der letzten Jahre – ungeachtet dessen, dass der Zuzug nachgelassen hat und es viele Rückkehrer geben wird. Das ist abenteuerlich.

 

Es ist nicht besonders schwer, die Lücken in Sarrazins Argumentation zu entdecken. Im Nachhinein. In Echtzeit ist es fast unmöglich. Was bleibt ist diese seltsame Aura von Wahrheit, die eindeutige Konstrukte wie Zahlen vermitteln. Sarrazin festigt diesen Eindruck mit Statistiken und Analysen, die kurios sind, aber mit sehr viel Offenheit wenigstens diskussionsfähig. Doch der Dunst der scheinbaren Wahrheit umgibt ihn immer noch, auch wenn er absoluten Unsinn erzählt wie: „98 Prozent der Frauen die zu uns kommen, tragen Kopftuch.“ Wahr ist: Nur 30 Prozent der hier lebenden Muslimas tragen Kopftuch, Erhebungen über die Kopfbedeckungen von Einwanderern gibt es nicht. Es dauert nicht lange, bis er ungeschminkten Rassismus mit diesem Gestus verkündet. Sarrazin und Bosbach sprechen gerade darüber, dass bis auf die Türken der Großteil der Gastarbeiter wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind. Sarrazin: „Die Italiener gingen auch alle zurück – außer sie haben eine Eisdiele oder waren in der Mafia“, sagt er und gluckst amüsiert. Das Publikum lacht und klatscht.

 

Die Mär vom mittelalterlichen Dorf

 

Wenn man nicht zufällig Migrations- und Demographie-Experte mit fotografischem Gedächtnis ist, ist es nahezu unmöglich, Sarrazins krude Argumentationen live zu durchkreuzen. So kann man Moderator Krons auch nicht vorwerfen, dass er Falschaussagen nicht immer korrigiert. Und was für einen vorbereiteten Moderator schon schwierig ist, geht als passiver Zuschauer noch weniger. Darauf basiert das System Sarrazin: Denn innerhalb seines hermetisch abgeriegelten Zahlenkosmos argumentiert er stringent – darin gleicht er Verschwörungstheoretikern. Dies wird ganz zum Schluss deutlich, bei Thilos Lehrstück vom mittelalterlichen Dorf – eine Allegorie auf die Flüchtlingskrise: Sollte in jenem Dorf die Ernte schlecht ausfallen, so Sarrazin, müsse das Dorf sich entscheiden: Entweder die Alten und Schwachen „durchfüttern“ und nächstes Jahr nichts haben – oder die Toten in Kauf nehmen. Mit der Flüchtlingskrise, meint der alte Mann, sei es genau so: „Wenn wir keinem helfen, wird auch keiner mehr im Mittelmeer ertrinken.“ Das wird auch Bosbach zu bunt. Manche nennen das Kaltschnäuzigkeit. Sarrazin nennt es „Verantwortungsethik“. Wieder so ein Wort voller Autorität. Bloß: Wir sind kein mittelalterliches Dorf. Oder vielleicht doch? Gerthe klatscht jedenfalls Beifall.

Dominik Lenze

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John Frieda, 22.06.2016

Tja

Mathematisch nachweislich keinen Fuß vor den anderen setzen können, aber einem Prof. Dr. Finanzsenator die Stirn bieten wollen. Ein schwaches Bild.

Die linkspolitische Verblendetheit des Artikels wird in der Ouvertüre klargestellt: "Rassismus ist kein Problem, wenn wir ihn benutzen". So wird - ausweislich des zweiten Satzes - per se dem Gesamtdeutschen Staatsvolk (klugerweise aber je nach Argumentationsstrategie auch durch ein muslimisches Staatsvolk austauschbar, um den Wind aus den Segeln zu nehmen) ein immerwährendes nationalsozialistisches Verhalten aufgebürdet.

Der Autor versucht Berechnungsgrundslagen zu umzäunen und generell als unglaubwürdig abzutun. Inwiefern die Rechnungen stimmen oder abweichen ist dabei egal. Es geht um die "Message". Jedem, der nicht illegale Migration beklatscht oder finstere Geschehnisse der Silvesternacht relativiert, wird die Intelligenz abgesprochen.

So geht kein Journalismus.

Kleinere Witzeleien, die bei Obama als wunderbar und stark empfunden werden, lösen - wenn durch den Mund des Staatsfeinds Nr. 1 gesprochen - beim Autor blankes Entsetzen aus. Jeder, der lacht oder auch nur die Augenbraue hochzieht, ist Nazi. Das Publikum verspielt mit einem Lachen, das auch ein Husten sein kann, ihre soziale und wirtschaftliche Anerkennung.

Zuguterletzt wird einmal mehr an Oberflächlichkeiten gekratzt. Ein simpler Vergleich von Sarrazins und er wird wieder mal (zwar nicht auf seinen Schlaganfall), aber aus seiner daraus resultierenden Persönlichkeit reduziert.

Einmal mehr wird auf die heutige Zeit verwiesen, um "progressiven" Gedankenmüll zu propagieren. Auszüge der Rede werden nur genannt und mit einem bösen Fingerzeig verhöhnt, nicht aber inhaltlich aufgegriffen und verwertet (Selbstverständlich gibt es ja nichts zu verwerten, ist ja alles Müll, ihr Nazis!).

Journalismus? Nein, Marktschreierei vielleicht, wenn man den Verkaufsaspekt in Abzug bringt.

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