Mit dem Schicksal einer seiner frühen schwarzweißen Fotografien hadert Patrick Faigenbaum noch heute. „Boston“ (1974) zeigt einen Mann auf einer Holzbank. Er ist hager, die Hose viel zu weit, der Oberkörper ist nach vorne gekippt, das Gesicht dadurch verborgen, ein Obdachloser. Auf der Mauer dahinter wirkt der Schatten der Bäume wie ein Strom Regenwasser. Für eine Publikation habe er diese Aufnahme damals Richard Avedon vorgeschlagen, ausgewählt wurden dann andere seiner Fotografien – dieses eine wurde eben nicht als Porträt verstanden. Und dann schaut Faigenbaum beim Pressegespräch im Josef Albers Museum fragend in die Runde: Das ist doch ein Porträt, oder nicht?

Jedes Bild im Werk des 1954 in Paris geborenen und dort lebenden Faigenbaum ist ein besonderes Ereignis, das von Respekt und Aufmerksamkeit durchdrungen ist, verbunden mit einer Beobachtungsgabe, die das Einzigartige herausarbeitet. Seine Bilder seien „innere Porträts der Städte und ihrer Menschen“, sagt Heinz Liesbrock, der Direktor des Josef Albers Museums. Jedem Bild liegt eine Vielzahl an Entscheidungen zugrunde, schnell entsteht bei Faigenbaum nichts, schon die Entscheidungen über die Größe und Proportion des Formates sind essentiell. Er fertigt dezidierte Porträts an, wendet sich dem stillen Geschehen auf der Straße zu und zeigt die Arbeiter in Manufakturen. Aber es entstehen auch Stillleben mit Früchten, die in ihren Farben und dem Spiel des Lichtes an die klassische Stillleben-Tradition der Malerei erinnern und doch eine zeitgenössische Präsenz besitzen.
Weiter bekannt wurde Faigenbaum Mitte der 1980er Jahre mit seinen Gruppenbildnissen italienischer Adelsfamilien, prunkvoll das Ambiente, die Personen zusammengerückt und dabei in den Raum oder Saal mit seinen Wänden, Boden und Decke eingepasst. Sie fügen sich zu einem Bild, in dem die Jahrhunderte alte Historie anklingt und sich subtil Hierarchien abzeichnen. Thematisiert ist zugleich die Rolle der Familie, der Zusammenhalt in ihr mit ihren Riten. Es war schon eine Sensation, dass sich diese Familien fotografieren ließen.
Patrick Faigenbaum, Salonina, Kapitolinische Museen, Rom, 1987, Chlorbromsilber-Abzug, 58,8 × 49,8 cm, © Patrick Faigenbaum, Paris, 2021, courtesy Patrick FaigenbaumMit einiger Konsequenz fotografierte Faigenbaum anschließend die Antlitze antiker Büsten aus den Kapitolinischen Museen, die, frontal als Ausschnitt im Bildformat, nun im Stein zu Leben erwachen, so wie sie vor über 2000 Jahren vom Bildhauer nachempfunden wurden. Seine folgenden, im Josef Albers Museum exemplarisch ausgestellten Fotografien von Städten wie Prag, Bremen (Aufenthalt anlässlich eines Stipendiums), Barcelona, Kalkutta oder Paris reflektieren noch Literatur, soziale Verfasstheit und die Umstände, die den Klang der Orte prägen. Dazwischen findet sich wiederholt die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft, etwa in den unglaublich sensiblen Porträts der alten Mutter und der Mutter seiner Lebensgefährtin. Sie münden in jüngster Zeit und nun erstmals ausgestellt in zwei Tableaux aus einer Vielzahl kleiner Einzelbilder mit Wohnungsausschnitten, die persönliche Erinnerungen und die kollektive Geschichte mit dem Fortleben im Tod aufspüren – ein existenzieller Klang liegt über dem gesamten Werk von Faigenbaum. Ganz, ganz eindrucksvoll!
Patrick Faigenbaum. Fotografien 1974-2020 | bis 24.10. | Josef Albers Museum Quadrat Bottrop | 02041 37 20 30
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