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Matthias Grimminger
Foto: Leszek Januszewski

„Im Geiste dieser Zeit“

22. Dezember 2021

Matthias Grimminger spürt mit Akribie der Unterhaltungsmusik der Roaring Twenties nach – Interview 01/22

trailer: Herr Grimminger, Sie haben eine ganz besondere Fassung der bekannten Operette „Die lustige Witwe“ von Franz Lehár rekonstruiert, die nun in Dortmund auf die Bühne kommt. Wird das breite Publikum den Unterschied bemerken – oder nur echte Kenner?

Matthias Grimminger: Wir versuchen den Geist der Aufführung von 1928 musikalisch nachzuzeichnen, eine Rekonstruktion im strengen Sinne kann es umständehalber aber nicht sein. 1928 hat Erik Charell versucht, die Operette „Die lustige Witwe“ in eine Revue-Operette zu verwandeln und unter anderem in Franz Lehárs Musik Jazzelemente eingebaut. Das geschah mit den Mitteln der damaligen Zeit. Charell hat die Reihenfolge der Musiknummern – Lieder, Duette und so weiter – umgestellt und wenige Fremdnummern dazugenommen, sowohl von Lehár als auch wahrscheinlich aus Operetten anderer Komponisten. Charells Bearbeiter am Theater, Adam Gelbtrunk, war auch derjenige, der zwei Jahre später die Nachtänze fürs „Weiße Rößl“ komponiert hat. Der Jazz war damals eine ganz neue Art des Tanzes und der Musik und ungeheuer populär. Neben der Musik und der Musiknummernfolge hat Charell auch die Handlung verändert. Sowohl Musiknoten als auch Text- und Regiebuch inklusive der Dialoge sind verschollen. Es gibt jedoch Quellen, auf die wir uns berufen können, etwa das Textbuch der Gesänge, wo detailliert die neuen Gesangstexte in Reihenfolge aufgelistet sind, und die Programmhefte, aus denen man die Struktur der Akte und Bilder im Stück mit den Orten, an denen die veränderte Handlung gerade spielt, herauslesen kann. Ein Grundgerüst ist also da.

„Erik Charell hat das Stück nur inszeniert und in Auftrag gegeben“

Was wir nicht haben, sind die Dialogtexte und die Geschichte. Wir können einiges zum Beispiel anhand von Zeitungsartikeln nachvollziehen, die uns sagen, was wo wie passiert ist – zum Beispiel, dass das Stück mit einem Chor aus Cowboys und Matrosen begonnen hat. Wir haben uns gefragt: Wie würde man das mit zeitgenössischen Mitteln aufgeführt haben? Erik Charell hat die Stücktexte nicht selbst geschrieben, sondern seine Librettisten Rudolph Schanzer und Ernst Welisch, das heißt: Charell ist kein Textautor, hat das Stück nur inszeniert und in Auftrag gegeben. Deswegen berufen wir uns auch nicht auf Charell, sondern wir sagen: Mit den verfügbaren Informationen versuchen wir, diese Operette so ähnlich wie damals auf die Bühne zu bringen – eben im Geiste dieser Zeit.

Hat das vor Ihnen schon mal jemand versucht?

Bei diesem Stück in unserer Manier nicht, soviel ich weiß. Es kann natürlich sein, dass es schon Inszenierungen gab, die in diese Richtung zielten, wahrscheinlich aber nicht mit so viel Akribie, zum Beispiel im Stil der Zeit zu schreiben. Wir wissen, wie zum Beispiel Tänze damals angelegt worden sind; das kennen wir von anderen Stücken. Das diente uns quasi als Blaupause. So können wir sagen, dass im Stil und mit den Mitteln der Zeit man es damals so gemacht haben könnte. Es ist ein bisschen wie in der Archäologie, wenn man etwa eine Ritterburg baut und dabei keine modernen Hilfsmittel benutzt, sondern nur die damaligen Werkzeuge.

„Unterschiede in Musik, Handlung und Gewichtung der Rollen“

Das klingt so, als werde man den Unterschied zur gewohnten Fassung ziemlich deutlich hören?

Ja, hören und sehen. Es gibt Unterschiede in der Musik, der Handlung und der Gewichtung der Rollen. Die Rolle der Hanna Glawari ist gegenüber dem Original hervorgehobener, die anderen Rollen sind etwas zurückgenommen. Das kommt daher, dass die Hauptdarstellerin Fritzi Massary, damals ein großer Star, einfach mehr Musikanteile für sich beansprucht hat. Zusätzlich zur originalen Orchesterbesetzung haben wir einen Jazz-Bass, ein Jazz-Schlagzeug und ein Banjo hinzugenommen, womit wir die Ursprungsbesetzung von Franz Lehár ergänzen. So war es auch 1928. Es gibt einzelne Nummern, die auf Schallplatte eingespielt worden sind und die aus dieser Fassung stammen. Das haben wir, so gut es ging, abgehört und verarbeitet.

Das ist ja nicht die erste Operette, der sie historisch auf den Grund gehen. Wie kamen Sie zu dem Thema?

Winfried Fechner, Rundfunkorchester-Manager a.D. beim WDR in Köln, kam 2007 auf die Idee, die Operetten von Paul Abraham musikalisch so aufführen zu wollen, wie es zur Uraufführungszeit üblich gewesen sein könnte. Ihn störte, dass die Operetten von vor 1933 im Grunde zweimal verändert worden sind: Zum einen haben die Nationalsozialisten diese Stücke nach ihrer Machtergreifung teilweise als entartet bezeichnet oder umarbeiten lassen, weil vieles auch von jüdischen Autoren stammte und viele Jazzelemente vorkamen. Zum anderen war die Art, wie man Operette vor 1933 aufgeführt hat, eher wie musikalisches Kabarett und weniger wie Belcanto.

„Wir wollen Wissenslücken schließen helfen“

Die zweite Bearbeitung fand nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Man hat Operetten neuzeitlich angepasst und sich dadurch immer mehr davon entfernt, wie sie ursprünglich aufgeführt worden waren, besonders in musikalischer Hinsicht. Man wollte nicht zurückschauen, aber die Stücke dennoch wieder aufführen, also hat man sie modernisiert. Das gehört zum Wesen des Musiktheaters und ist nachvollziehbar. Es wurde nicht bedacht, für welche Musiker, Sänger und Tänzer und für welches Publikum die Stücke ursprünglich geschrieben worden sind. Das versuchen wir zu kompensieren, indem wir unsere Operetteneditionen mit historischen Quellen musikwissenschaftlich aufarbeiten. Das aufführungspraktische Wissen zu diesen Stücken ist leider sukzessiv verloren gegangen. Man muss das heute nicht wieder genauso machen wie damals, aber man sollte unserer Meinung nach die historische Aufführungspraxis kennen, um eine schlüssige Aufführung ins Heute zu transportieren. Den Anfang einer Stückmetamorphose nicht zu kennen, behindert unserer Meinung nach eine schlüssige Aufführung. Wir wollen solche Wissenslücken schließen helfen und unsere Erkenntnisse verfügbar machen. Wie dann die Interpretierenden damit umgehen, ist deren Sache.

Interview: Karsten Mark

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