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Joachim Król über eine fernöstliche Liebesgeschichte
Foto: Martin Bartmann

„Und behutsam hielt er die Zeit an“

02. Februar 2015

Joachim Król liest aus Bestsellerroman im Schauspielhaus Bochum – Literatur 01/15

Als Buch „über nichts, wo der Stil alles ist“ wird Alessandro Bariccos „Seide“ in der Sekundärliteratur bezeichnet. Der Bestseller des italienischen Schriftstellers wurde bis 2008 in 32 Sprachen übersetzt und von Kritikern hochgelobt. Baricco widmet sich in seinem Kurzroman „Seta“ (so der italienische Originaltitel) der Geschichte eines Importeurs von Seidenraupen, der sich im fernen Japan in eine unbekannte Schönheit verliebt. Charakterdarsteller Joachim Król rezitierte am 30. Januar vor dem beinahe ausverkauften Schauspielhaus aus dem Roman.

Mitte des 19. Jahrhunderts siedelt der Unternehmer Baldabiou im französischen Lavilledieu einige Seidenspinnereien an und hilft dem Dorf dadurch zu Wohlstand und europaweiter Bekanntheit. Hervé Joncour, der ziellos durch das Leben irrende Sohn des Bürgermeisters, rutscht ebenfalls in die Seidenindustrie und wird beauftragt, regelmäßige Dienstreisen nach Afrika zu unternehmen und durch den Import von Seidenraupen das Geschäft in der jungen Hochburg abzusichern. 1861 jedoch rafft die Nosemaseuche die Seidenraupen dahin, sodass Hervé Joncour von Baldabiou nach Japan geschickt wird, um dort neue Seidenraupen zu kaufen. In dem zu dieser Zeit noch abgeschotteten Land erwirbt Joncour qualitativ hochwertige Seidenraupen von dem Fürsten Hara Kei – und trifft außerdem auf eine unbekannte Schönheit an der Seite seines Handelspartners, in die er sich trotz der Ehe mit seiner Frau Hélène auf den ersten Blick verliebt.

Joachim Król, unter anderem aus Wilsberg und Tatort bekannt, saß mit Lesebrille und Wasserglas vor ordentlich gestapelten Papierbögen und las dem Bochumer Publikum aus Bariccos Roman vor; hinter ihm am Bass Christoph Dangelmeier, am Klavier Gee Hye Lee und an Bass-Klarinette und Saxofon Ekkehard Rössle. Gemeinsam gelang es dem Quartett, die Szenen des Romans vor das innere Auge zu projizieren und die unverwechselbare Atmosphäre vom Beginn der Lesung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Der minimalistische Stil Bariccos sorgt durchgehend für Fragezeichen, lässt er doch viele Erklärungen aus und beschränkt sich auf scheinbar austauschbare Figuren mit flacher Charakterisierung und unbekannten Hintergründen und Motiven. Diesen Erzählstil, der oft mit der Leichtigkeit von Seide verglichen wird, gab Król in seiner Rezitation unnachahmlich wieder.

Wo das Auge mit Spezialeffekten verschont wird, werden die Ohren gefordert, Foto: Martin Bartmann

Obwohl er an seinen Stuhl gebunden war, machte er ausschweifende Bewegungen vor allem mit den Armen, lud den Zuschauer mittels Mimik und Gestik ein, ihm in die Geschichte des fremdgetriebenen Seidenhändlers zu folgen, Mitleid und Hoffnung ebenso zu verspüren wie Anspannung und Verständnislosigkeit. Mit warmer Stimme beschwor Król Lacher hervor, wo das Auge im Buch nie Humor lesen würde. Abrupte Pausen verstärkten das Gefühl, dass etwas fehlt – ein Gefühl, das sich durch den gesamten Roman zieht, allerdings ohne dabei unangenehm zu wirken. Król machte seinem Ruf als Schauspieler alle Ehre und verkörperte nicht nur eine Person, sondern gleich die Figuren eines ganzen Romans.

Der durch flüchtige Umschreibungen geprägte Stil des Buches wurde auch von dem Ensemble, das Joachim Król musikalisch unterstützte, aufgegriffen. Seine Musik reduzierte das Trio auf ruhige Melodien, mal allein für sich stehend, mal Króls Stimme untermalend. Die Jazzpianistin Gee Hye Lee spielte liebliche Melodien, welche den leichtfüßigen Erzählfluss unterstützten; Tiefe verlieh der ruhige Bass. Den insgesamt japanisch anmutenden Klang verstärkte Ekkehard Rössle an Klarinette und Saxofon. Dabei passten sich die Lieder des Ensembles an den minimalistischen Stil Bariccos an und nutzten Momente der Stille und Auslassungen sowie sprunghafte Melodien und offene Harmonien, die stets ein Fragezeichen hinter den letzten Ton setzten. Die scheinbare Endlosigkeit der Geschichte spiegelte sich in Stimme und Musik.

Hervé Joncour und das japanische Mädchen reden kein Wort. Sie sehen sich selten. Zwischen ihnen baut sich eine erotische Spannung auf, die beinahe ohne Berührungen von statten geht. Baricco schöpft die Momente, in denen Joncour und die unbekannte Schöne sich sehen, komplett aus, beschreibt sie in vorsichtigen Formulierungen. Er lässt Joncour „behutsam“ die Zeit anhalten und erschafft ein Bild von Sehnsucht, das Król mit herrlicher Intensität auf das gebannte Publikum zu übertragen verstand. Und am Ende blieben seltsam angenehme Ratlosigkeit und Fragen, die nicht beantwortet werden müssen, zu dem Buch „über nichts, wo der Stil alles ist“.

Alina Seiche

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