Für das legendäre Konzert von Keith Jarrett 1975 auf der Bühne der Kölner Oper ist eine junge Frau verantwortlich: Vera Brandes stammt aus konservativem Haus, gehobene Mittelschicht. Schon mit 15 Jahren beginnt sie, Jazzkonzerte zu veranstalten, als sie mit ihrer sehr selbstbewussten und ziemlich frechen Art den deutlich älteren Saxophonisten Ronnie Scott kennenlernt. In der Schule meist übermüdet, veranstaltet sie von nun an unter dem Banner „New Jazz in Cologne“ zahlreiche Konzerte, reist noch minderjährig zu den vom deutschen Jazz-Papst Joachim-Ernst Berendt gegründeten Berliner Jazztagen, wo sie Miles Davis und auch Keith Jarrett live erlebt. Daraufhin ergreift sie ihre Chance, ein Konzert mit dem ungewöhnlichen Pianisten, der zuvor u.a. auf mehreren Live-Alben von Davis zu hören war, zu organisieren. Die großen Hürden, den Musiker zu diesem Konzert zu bewegen, die Kölner Oper davon zu überzeugen, nach der Freitagabendaufführung von Alban Bergs „Lulu“ den Saal noch einmal um 23 Uhr für ein Jazzkonzert zu vermieten und die dafür nötigen 10.000 DM aufzutreiben, waren im Nachhinein noch die geringsten Probleme. Denn nach einer Nachtfahrt von Lausanne nach Köln in einem R4 ist Jarrett nicht nur übermüdet, sondern auch von starken Rückenschmerzen gepeinigt. Als dann anstelle des bestellten Bösendorfer Imperial-Flügels ein nicht nur generell zu leiser, sondern auch defekter und verstimmter Probeflügel auf der Bühne steht, ist für Jarrett klar, dass er nicht spielen wird. Auch wenn man durch das allseits bekannte Doppelalbum natürlich weiß, dass die Geschichte am Ende gut ausgegangen ist: Ido Fluks Umsetzung seines eigenen Drehbuchs baut zum Finale hin große Spannung auf. Es macht großen Spaß, Mala Emde in „Köln 75“ als Brandes mit viel Verve durch die Szenerie wirbeln zu sehen. Brandes wird als (beinahe scheiternde) Heldin gefeiert – eine junge Frau, die sich gegen eine Männerwelt und die ältere Generation behauptet. Das inszeniert der Film mit guten Punchlines und gezielten Gags vor der in Bezug auf Mode und Mobiliar dankbaren historischen Kulisse der 1970er Jahre. Und zwischendrin gibt es auch noch launige Nachhilfe in Jazzgeschichte.
Der ehemalige Abgeordnete Rubens Paiva lebt mit seiner Frau Eunice Paiva und den fünf Kindern in einem großzügigen Haus direkt an der Promenade in Rio de Janeiro. Gestört wird die Idylle von willkürlichen Straßenkontrollen, bei der die älteste Tochter mit ihren Freunden von der Polizei drangsaliert wird. Gestört wird sie auch durch Militärfahrzeuge, die im Hintergrund durch die Straßen streifen. Auch die dubiosen Telefonanrufe und Briefumschläge, die Rubens Paiva immer wieder erreichen, künden drohendes Unheil an. Eines Tages steht eine Handvoll Männer vor der Tür und holen Rubens ab, um ihn zu befragen. Angeblich eine reine Formsache. Doch er kommt an dem Tag nicht zurück und auch nicht am folgenden. Dann stehen die Männer wieder vor der Tür und holen Eunice und die ältere Tochter ab. Im Gefängnis werden sie befragt. Eunice bleibt dort fast zwei Wochen unter den widrigsten Bedingungen. Als sie zu ihren Kindern zurückkehren kann, ist ihr Leben nicht mehr das alte. Und Rubens bleibt verschwunden. „Desaparecidos“, die Verschwundenen – so nennt man die Menschen, die zu zehntausenden in den südamerikanischen Diktaturen der 1960er- bis 1980er-Jahre vom Militär verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Nichts davon haben die Militärs zugegeben, sodass die Hinterbliebenen nie wussten, was geschehen ist und ob ihre Familienmitglieder noch leben. Walter Salles widmet sich mit seinem Film „Für immer hier“ der Willkür der Diktaturen, aber vor allem dem Schicksal der Hinterbliebenen. Fernanda Torres glänzt in seinem Film, der auf dem autobiografischen Buch von Rubens Paivas Sohn Marcelo Rubens Paivas basiert, als eine Frau, die sich nicht von dem Regime unterkriegen lassen will. Ebenso lässt sich auch Salles Film nicht vorgeben, wie er auszusehen hat. Die Bilder sind zunächst sonnendurchflutet und poetisch. Dann klaustrophobisch und in permanenter Anspannung. Die physische Gewalt zeigt Salles nicht, den psychologischen Druck schon. Der Film erhielt letzte Woche den Oscar als bester fremdsprachiger Film des Jahres.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: die inspirierende Zeitreise „Ein Tag ohne Frauen“ von Pamela Hogan und Hrafnhildur Gunnarsdóttir, der Psychothriller „Die Schattenjäger“ von Jonathan Millet, das umstrittene Biopic „Bonhoeffer“, der Dokumentarfilm „Sterben ohne Gott“, das Thrillerdrama „The Critic“ von Anand Tucker, die jugendliche Chaoskomödie „Der Prank – April, April!“ von Benjamin Heisenberg und der Animationskrimi „Nina und das Geheimnis des Igels“ von Alain Gagnol, Jean-Loup Felicioli.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Sonderzug nach West-Berlin
Die Filmstarts der Woche
Raumschmuck aus Türmen
Mariana Castillo Deball im Dortmunder Kunstverein – Ruhrkunst 12/25
Vom Ausstellen
Hans-Peter Feldmann im Kunstpalast Düsseldorf – Kunst in NRW 12/25
Klassenkampf im Quartier
Teil 1: Lokale Initiativen – Bochums Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Stahlhausen
Rund ums Staubhaus
„How we met“ im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 12/25
Tanzbein und Kriegsbeil
Filmdoku in Düsseldorf: Urban Dance in Kiew – Tanz an der Ruhr 12/25
Armutszeugnis im Reichtum …
… und alternative Fakten im Wirtschaftssystem – Glosse
Der böse Schein
„Söhne“ in der Moerser Kapelle – Prolog 12/25
Facetten des Antisemitismus
Vortrag und Diskussion im Bahnhof Langendreer Bochum – Spezial 12/25
„Eine neue Ungleichheitsachse“
Teil 1: Interview – Soziologe Martin Heidenreich über Ungleichheit in Deutschland
Orgeltrio mit frischem Sound
„Deadeye“ im Kölner Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 12/25
„Stromberg hat Relevanz für die heutige Zeit“
Ralf Husmann über „Stromberg – Wieder alles wie immer“ – Gespräch zum Film 12/25
Bach mit E-Gitarre
Das Ensemble Resonanz in Köln und Dortmund – Klassik an der Ruhr 12/25
Der Staat will zuhören
Wandel im niederländischen Sozialsystem – Europa-Vorbild: Niederlande
Jenseits des Schönheitsdiktats
„Verehrung“ von Alice Urciuolo – Textwelten 12/25
Eine echte Rockshow
Britische Alternative-Rocker LEAP im FZW – Musik 12/25
Praktisch plötzlich doof sein
Helge Schneider präsentiert seine neue Tour – Prolog 12/25
Nicht die Mehrheit entscheidet
„Acht Jahreszeiten“ von Kathrine Nedrejord – Literatur 12/25
Liebe überwindet den Tod
„Orpheus und Eurydike“ am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 12/25
Tanz schärft die Sinne
IP Tanz feiert 30. Geburtstag – Tanz in NRW 12/25
„Totaler Kulturschock. Aber im positiven Sinn“
Schauspielerin Nina Steils über „Amsterdam“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 12/25
„Konventionen über Bord werfen“
Co-Kuratorin Kerstin Meincke über „Germaine Krull: Chien Fou“ im Essener Museum Folkwang – Sammlung 12/25
Land ohne Kino-Geschichte
Geschlossene Zeitungsarchive verhindern eine umfassende lokale Kinoforschung – Vorspann 12/25
Gleiches Recht für alle!
Teil 1: Leitartikel – Aufruhr von oben im Sozialstaat
Unter Ruhris
Brigitte Kraemer in Essen – Ruhrkunst 11/25