Eigentlich wollte der 1939 in Hamburg geborene und auf Amrum aufgewachsene Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur Hark Bohm seinen 2024 erschienenen autobiografischen Roman „Amrum“ selbst verfilmen. Doch dann stoppten die Wehwehchen des Alters den mittlerweile 85-Jährigen und er tat sich mit Fatih Akin zusammen. Gemeinsam schrieben sie das Drehbuch, Akin übernahm die Inszenierung – und Hark Bohm steht in der letzten Einstellung des Films am Amrumer Kniepsand, einem der breitesten Sandstrände Europas, blickt mit jener Mischung aus Melancholie und Stolz in die Kamera, die ein erfülltes (Film-)Leben erahnen lässt. Zurück ins Jahr 1945: Zusammen mit seiner hochschwangeren Mutter Hille (Laura Tonke), seinen beiden jüngeren Geschwistern und seiner Tante Ena (überzeugend: Lisa Hagmeister) musste der 10-jährige Nanning (Jasper Billerbeck) aus dem zerbombten Hamburg auf die Nordfriesischen Inseln fliehen. Sein Vater, ein hoher Nazi-Funktionär, befindet sich in Kriegsgefangenschaft. Während Flüchtlinge aus Schlesien im Dorf einquartiert werden, machen erste Gerüchte vom nahenden Ende des Krieges die Runde. Während Hille mit dem Untergang hadert, versucht Nanning, mit kleinen Arbeiten bei der Nachbarsbäuerin Tessa (wunderbar schnippisch: Diane Kruger) und dem Fischer Sam Gangsters (wie gewohnt herrlich skurril: Detlev Buck) – dem er die Robbe mimt, um paarungswillige Seehunde aus dem Wasser zu locken – seiner Mutter ihren Herzenswunsch zu erfüllen: ein Weißbrot mit Butter und Honig. Aber dafür muss er bei Ebbe das Watt nach Föhr durchqueren, um in Pimpf-Uniform beim Nazi-Onkel Onno (schön fies: Jan Georg Schütte) mit Hitlerjugend-Parolen um Zucker zu betteln. Akin und Bohm beobachten sehr genau die ideologische Vergiftung ihrer Figuren, die selbst vor den Landsleuten aus Schlesien und sogar den Hamburgern nicht Halt macht. Bis in pittoreske Details hinein porträtieren sie das Inselleben, was „Amrum“ bisweilen einen dokumentarischen Touch verleiht. Beide erzählen leise die Geschichte einer Kindheit auf dem Scheitelpunkt zwischen Krieg und Frieden. Kongenial unterstützt von den atmosphärisch stimmigen Bildern von Kameramann Karl Walter Lindenlaub, der eleganten Montage von Fatih Akins Stamm-Schnittmeister Andrew Bird und den dezent-experimentellen Klängen des Komponisten Stefan Paul Goetsch alias Hainbach, der für „Amrum“ seine erste Filmmusik schrieb.
Der 1987 in Regensburg geborene Debütfilmer Julius Grimm verlagert das Beamtentum ins Jenseits, in die „Zweigstelle“ Süddeutschland III/2. Die bitterböse schwarze Komödie feierte ihre Premiere auf dem Filmfest München, wo sie mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Resis (Sarah Mahita) Freund ist nach Jahren nun doch seiner Krebserkrankung erlegen. Gemeinsam mit den besten Freunden Sophie (Nhung Hong), Fipsi (David Ali Rashed) und Mel (Beritan Balci) will sie seinen letzten Wunsch erfüllen und seine Asche in den Bergen verstreuen. Auf dem Weg dorthin haben die vier jungen Freunde einen Autounfall und finden sich anschließend in einem Amt im Jenseits wieder. Dort müssen sie zu Protokoll geben, an was sie zeitlebens geglaubt haben, damit klar ist, wohin sie weitervermittelt werden. „Zweigstelle“ steckt voll solch liebenswerter Details, die höchst originell und auf weite Strecken auch sehr unberechenbar sind. Die durchweg exzellent gecasteten Darsteller:innen legen so viel Spielfreude an den Tag, dass man anderthalb Stunden äußerst kurzweilig unterhalten wird.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: die Europa-Satire „Kontinental '25“ von Radu Jude, die Wende-Doku „Stolz und Eigensinn“ von Gerd Kroske, die Agentenfilm-Hommage „Reflection in a Dead Diamond“ von Hélène Cattet und Bruno Forzani, das Sci-Fi-Abenteuer „Tron: Ares“ von Joachim Rønning und die böse Action-Dystopie „A House of Dynamite“ von Kathryn Bigelow.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Was hat Kultur denn gebracht?
Eine Erinnerung an Nebensächliches – Glosse
Jede Menge bunter Abende
Wilder Programmmix in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 10/25
Jenseits üblicher Klänge
Das Multiphonics Festival 2025 in Köln und Wuppertal – Improvisierte Musik in NRW 10/25
„Ich glaube schon, dass laut zu werden Sinn macht“
Teil 1: Interview – Freie Szene: Die Geschäftsführerin des NRW Landesbüros für Freie Darstellende Künste über Förderkürzungen
Körper und Krieg
„F*cking Future“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 10/25
Die Kunstinitiative OFF-Biennale
Wer hat Angst vor Kunst? – Europa-Vorbild: Ungarn
Tanz gegen Kolonialismus
„La Pola“ im Rautenstrauch-Joest-Museum – Tanz in NRW 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Günstige Städtereisen
Die Neue Philharmonie Westfalen tourt durchs Ruhrgebiet – Klassik an der Ruhr 10/25
Der Meister des Filmplakats
Renato Casaro ist tot – Vorspann 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
„Das Streichquartett in die Zukunft führen“
Der Geiger Daniel Stoll über die Residenz des Vision String Quartets in der Tonhalle Düsseldorf – Interview 10/25
Von Ära zu Ära
Biographie einer Metal-Legende: „Sodom – Auf Kohle geboren“ – Literatur 10/25
Unbezahlbare Autonomie
Teil 1: Leitartikel – Die freie Theaterszene ist wirtschaftlich und ideologisch bedroht
Foltern ohne Reue
„Törleß“ am Bochumer Rottstr 5 Theater – Prolog 10/25
Kutten, Kohle und Karlsquell
Lesung „Sodom – Auf Kohle geboren“ in Bochum – Literatur 10/25
Der Klang verwüsteter Hotelzimmer
4. Formosa Bierfest auf der Essener Zeche Carl – Musik 09/25
Ruhrgebilder
Pixelprojekt-Neuaufnahmen in Gelsenkirchen – Ruhrkunst 09/25
„Absurd und bewusst irritierend“
Kuratorin Inke Arns über „Genossin Sonne“ im Dortmunder HMKV – Sammlung 09/25
Auf einem Mistkäfer zum Olymp
„Der Frieden“ am Schlosstheater Moers – Prolog 09/25
Jenseits des Rasens
„Pilsken, Pöhlen und Probleme“ in der Rotunde Bochum – Spezial 10/25
Graf Fridol geht auf Nachtschicht
Musik-Improtheater beim Duisburg Fringe Festival – Festival 09/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Verzweifelte Leidenschaft
„Manon Lescaut“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/25
Bis das Regime gestürzt ist
Mina Richman im Bochumer Bahnhof Langendreer – Musik 09/25