Die Klasse - Entre les Murs
Frankreich 2008, Laufzeit: 128 Min., FSK 0
Regie: Laurent Cantet
Darsteller: Francois Bégaudeau, Vincent Caire, Olivier Dupeyron
Ein Schuljahr lang begleitet der Film eine 7. Klasse in einer Pariser Schule. Behutsam wird das Verhältnis von Lehrer und Schülern beobachtet.
Es ist ein umfangreicher, in den unterschiedlichsten Ausformungen erscheinender Topos in der Filmgeschichte: der Konflikt in der Schule, zwischen den Schülern oder zwischen Lehrern und Schülern. Da gibt es Komödien wie den amerikanischen Teenie- und College-Film oder in Deutschland den albernen Paukerfilm. Und es gibt apokalyptische Visionen wie „Die Klasse von 1984“. Aber bereits vorher, in den 50er Jahren, waren mit dem Aufkommen der Jugendkultur erste ernsthafte Filme zu problematischen Verhältnissen an den Schulen entstanden, so zum Beispiel Richard Brooks' „Die Saat der Gewalt“ aus dem Jahr 1955. Der basiert ebenfalls wie „Die Klasse“, der diesjährige Gewinner in Cannes, auf der Romanvorlage eines Lehrers, schlägt mit seinem dramatischen Gehalt aber einen ganz anderen Ton an. Viel eher erinnern jüngere Filme wie „Half Nelson“ von 2006 mit seinem ambitionierten, aber an sich und den Umständen scheiternden Lehrer an den neuen Film von Laurent Cantet („In den Süden“). Oder „L'Esquive“ von Abdellatif Kechiche, der vor fünf Jahren mit Laiendarstellern von einem Theaterprojekt an einer Schule in den Pariser Banlieues erzählte. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber in der Perspektive. Während sich „Half Nelson“ auf den Lehrer und „L'Esquive“ auf die Schüler konzentriert und sie auch in ihrer Freizeit beobachtet, bleibt in „Die Klasse“ die Außenwelt draußen, der ausschließliche Blick in den Innenraum der Schule aber gleichermaßen auf Lehrer wie Schüler gerichtet.
Begrenzter Spielraum
Das Setting des Films hält sich konsequent an die durch den Originaltitel vorgegebene Richtung: Entre les murs – zwischen den Mauern. Abgesehen von einer einminütigen Einleitung, die den Lehrer François auf dem morgendlichen Weg vom Bistro zur Schule zeigt, spielt der Film komplett in der Schule: im Lehrerzimmer, auf den Gängen, im Pausenhof und natürlich vor allem im Klassenzimmer. Die Klasse ist das räumliche Zentrum des Films, die im Klassenraum gesprochenen Worte das inhaltliche Zentrum. Eine Nacherzählung der Handlung erschöpft sich daher auf den folgenden Satz: Ein Lehrer im Dialog mit seinen Schülern. Das Entscheidende an diesem, den Alltag an unseren Schulen spiegelnden Satz ist das Wort „Dialog“. François gibt sich alle Mühe, keinen Frontalunterricht runterzureißen, sondern jeden einzelnen Schüler als ein gleichwertiges Gegenüber zu behandeln. Um zu verstehen, wie schwer es ist, diese Minimalforderung zu erfüllen, muss der Film aber weder ein Horrorszenario einer meuternden Schülerhorde, noch das Bild eines restriktiven Schulsystems oder auch nur einer gleichgültigen oder desillusionierten Lehrerschaft zeichnen. Es reicht schon, die Begrenztheit des Spielraums zwischen den Schulmauern, das statische Schulsystem, in dem jede Initiative langsam versandet, spürbar zu machen. Die Beschränkung des Films auf das, was zwischen diesen Mauern geschieht, spiegelt aber zugleich wider, wie sich Lehrer und Schüler gegenseitig wahrnehmen: eben nur so, wie sie sich im Klassenzimmer begegnen. Wie François lebt, erfahren die Kinder genauso wenig wie der Zuschauer. Nur einmal fragt ein Schüler, ob er schwul sei, weil er so rüberkomme. Und was die Schüler nachmittags machen, weiß weder der Lehrer noch der Zuschauer. Nur in Anklängen erfährt man darüber etwas im Gespräch der Schüler oder beim Elternabend. Somit sitzt der Zuschauer während des Films wie ein stiller Beobachter im Klassenraum und kann den Umgang der Figuren miteinander beobachten. Nicht mehr, aber vor allem nicht weniger.
Nicht überhöht, nur verdichtet
Tatsächlich erliegt man immer wieder dem Gefühl, dokumentarische Bilder zu betrachten. Das liegt an der freien Kameraarbeit ohne Stativ, deren wackelige Bilder einen Authentizitätseffekt bewirken. Es liegt auch an den durchweg großartigen Laiendarstellern. Die pointierten Rededuelle zwischen dem Lehrer und seinen Schülern sind teils geschriebene Dialoge, teils improvisiert. Nicht nur die Schüler waren Neulinge vor der Kamera, auch der Lehrer. Denn den spielt kein anderer als François Bégaudeau, der Autor der Romanvorlage und des Drehbuchs. Da er selbst Lehrer ist und im Buch von seinen eigenen Erfahrungen berichtet, sind die Geschehnisse innerhalb des Schuljahres nicht dramatisch überhöht, sondern nur verdichtet. Einen lockeren Spannungsbogen bietet der Film zwar, die undramatischen Ereignisse, die im Detail dennoch eine große Spannung und Kraft entfalten, ordnen sich aber keinem narrativen Regelsystem unter. „Die Klasse“ erzählt also von einer ganz normalen Schule in Frankreich mit einer größeren, aber nicht ungewöhnlichen Zahl an Migrantenkindern; von einem ambitionierten Lehrer, der die Demokratie im Klassenzimmer wagt, aber an seine Grenzen stößt; von einem halbwegs liberalen, aber relativ unflexiblen Schulsystem; von Misserfolgen wie von kleinen Erfolgen. Der Film überzeichnet nicht und scheint dadurch umso mehr zu zeigen.
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