trailer: Herr Weber, was bringt den Zerbrochnen Krug gerade auf so viele Spielpläne der Republik?
Anselm Weber: Die aktuellen Verbindungen, die ich kenne, haben etwas mit Terror zu tun. In Frankfurt ist er jetzt in Verbindung mit dem Stück „Terror“ vonFerdinand von Schirachgemacht worden.
Was ist als Regisseur der Reiz am Krug?
Für mich ist das eine autobiografisch sehr aufgeladene Geschichte. Als ich vor knapp 30 Jahren in den Beruf eingestiegen bin, war „Der zerbrochne Krug“ das erste Stück an den Münchner Kammerspielen, das ich als Regieassistent übernommen habe, damals in der Inszenierung von Dieter Dorn. Da haben damals Rolf Boysen, Edgar Selge, Axel Milberg, Sibylle Canonica und Claus Eberth gespielt. Und ich habe das damals, natürlich nicht wissend, was ich da für eine Vorstellung übernehme, jahrelang in der Abendregie betreut und habe das Stück, wie kein zweites, danach oft an anderen Theatern gesehen. Ich würde behaupten, dass das damals wirklich die beste Inszenierung war, die ich je von diesem Stück gesehen habe. 30 Jahre lang habe ich mich daran abgearbeitet, habe mir gesagt: Irgendwann machst du es, mit dem Wissen von dem, was du damals mitbekommen hast. Wenn du an dem Punkt bist, an dem du glaubst, es jetzt machen zu können, dann machst du es.
Ist das dann so eine Art Zerbrochner Krug 2.0?
Wenn sie den digitalen Vorgang weglassen, mich nicht dazu verpflichten, es ins digitale Zeitalter zu verfrachten, dann ja.
Wäre es für einen Richter heute nicht leichter sich rauszuwinden?
Natürlich wäre die Frage danach, was passiert mit ihm? Die Frage ist heute ja eher, ob es kundgetan würde. Wenn es kundgetan würde, müsste er sehr wahrscheinlich zurücktreten.
Ist das Richteramt heute nicht unangreifbarer als vor 200 Jahren?
Das ist eine schwere Frage. Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Ich glaube, und ich will jetzt niemandem etwas unterstellen, aber wenn ich mal davon ausgehe, dass es in jedem Berufsstand schwarze Schafe gibt, und nicht per se alle Richter gute Menschen sind – genau wie in allen anderen Feldern – dann glaube ich, bleibt es wieder nur eine Frage von: kommt es raus oder kommt es nicht raus. Denn das System Dorfrichter Adam ist ja bis zu dem Tag der Krugzerschlagung ein funktionierendes Netzwerk. Aber das System von Korruption und Unterschlagung bricht an dem Tag auseinander. Das kann man auf heute und auf jede ähnliche Situation übertragen: Solange der Schein gewahrt bleibt, funktioniert es, und in dem Moment, wo es auseinanderbricht, funktioniert es plötzlich auch nicht mehr.
Kleist kritisierte damals auch die Juristerei. Ist das Stück nicht bis heute eine universelle Systemkritik am Rechtswesen?
Total. Es ist nicht nur eine universelle Kritik am Rechtswesen, sondern auch daran, wie der Staat mit seinen Bürgern umgeht. Neben dem, was Richter Adam in dem Dorf treibt, was die Eve im Prozess antreibt, gibt es ja auch den entscheidenden Punkt, der nach der Verhandlung mit der Verschickung der jungen Soldaten erst nach Utrecht, dann in die indischen Kolonien passieren wird. Da lügt der Staat ganz offensichtlich, und mit der Figur des Gerichtsrats Walter wird es ja auch zum Thema gemacht. Ich glaube, es geht im weitesten Sinne auch darum, wie das, was man Staat nennt, mit den Bürgern umgeht und wie auch da Wahrheit und Ehrlichkeit praktiziert werden. Das ist ein Wissen, was nur wenig Menschen haben, wenn man mit ihnen über dieses Stück spricht, weil sie eben nur diesen komödiantischen Moment davor sehen. Einen halbwegs lebensfrohen Dorfrichter, der da ein bisschen rummogelt. Aber das Stück tut ja weit mehr, es beschreibt zum einen sehr genau was systemimmanent im Staat passiert, wie der sich damals gegenüber seinen Bürgern verhält. Wenn die Obrigkeit meint, Recht haben zu wollen oder Recht haben zu müssen, und wie sie dann die Wahrheit beugt, im Zweifelsfall auch bewusst Lügen verbreitet, und das natürlich immer unter dem Stichwort der politischen Maxime: Das finde ich ein unglaublich heutiges Thema. Da muss man ja nur einmal die Zeitung aufschlagen und denkt immer, das ist alles noch da. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist der, den ich ganz entscheidend finde, dass man das Stück mal aus der Sicht von Eve liest. Dann bekommt das Stück nochmal einen ganz anderen Zusammenhang. Weil es im Wesentlichen ein Stück über Ohnmacht ist. Immer wenn man den Krug liest, muss man daran denken, dass Heinrich von Kleist das geschrieben hat. Der hat auch „Penthesilea“ geschrieben und „Das Käthchen von Heilbronn“. Eve ist wie die kleine Schwester von Penthesilea. Aber sie agiert halt nur in einer Komödie. Deswegen kann sie nicht auf die Barrikaden gehen, kann das, was sie selber zerstört, nicht zerstören. Aber sie geht fast daran zugrunde, an dem, was dieses System mit ihr macht. So gesehen ist das eine sehr bittere Komödie.
Hätte Kleists Adam nicht lieber einfach auf Burnout plädieren müssen?
Er hätte das machen können. Sicher. Er plädiert ja auf eine Art Burnout, und das ist der Teufel. Das ist ja so der Belzebub, den wir davor auch noch nicht kannten. Also vor 30 Jahren kannte niemand den Belzebuben Burnout – jetzt kennen ihn alle und plötzlich haben auch alle Burnout.
Das steckt also auch darin?
Irgendwie schon.
„Der zerbrochne Krug“ | R: Anselm Weber | Sa 5.12.(P) 19.30 Uhr, So 6.12. 19 Uhr, So 20.12. 17 Uhr, Do 31.12. 18 Uhr | Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele | 0234 33 33 55 55
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