Er ist nicht nur ein Virtuose der Abschweifung, sondern auch des kunstvollen Schlusses vom Detail aufs Ganze – und gerne nähert er sich über das Absurde dem Grotesken: Max Goldt. Sein feiner subversiver Humor bereicherte das diesjährige LesArt.Festival, bei dem Goldt am 11.11. in der Avantgarde-Kultur-Location Domicil auftrat. Zeitloses und Aktuelles kam zum Vortrag – so etwa ein fiktiver Interview-Dialog aus dem 2016 erschienenen ‚Best-of‘-Band „Lippen abwischen und lächeln.“ Subtil mäandernd bewegt sich der Text zunächst um die scheinbar abseitige Frage, ob eine selbst erdachte Binsenweisheit offiziell als Redensart registriert werden könne: „Bricht der Zweig, auf dem er sitzt, vergisst der Vogel, dass er fliegen kann.“ Was zunächst Anlass zur Spekulation über potenzielle Anwendungsbereiche dieses Diktums gibt – etwa die spontane Erkenntnis der Flugunfähigkeit samt Absturz und „Knöchelchenbruch“ infolge „plötzlichen Zweigschadens“ beim unvorhergesehenen Wegbrechen der Versorgungsquellen dubioser Politiker – regt den Interviewer unvermittelt zum eigenen geistigen Höhenflug an: „Der Kiff killt den Keif“, setzt er der Interviewten ein eigenes selbsterdachtes Sprichwort entgegen. So mancher Volksvertreter wäre vielleicht gerade in diesen Tagen tatsächlich besser beraten, zur sedierenden Rauchware zu greifen, statt dem cholerischen Keifen freien Lauf zu lassen.
Manchmal sind es nur kurze Notizen, die als Ausgangspunkt für die Texte von Max Goldt dienen. So etwa der dilettantische Abgesang einer Nachrichtensprecherin auf die verstorbene Musiker-Legende David Bowie. Dann wieder sind es Comic-Szenarien, die den Satiriker wie im 2015 publizierten Band „Räusper“ zu Dramoletten inspirieren, die in subtilen Spitzen kulminieren – nicht zuletzt auf die fragwürdige Doktrin gemünzt, jedermann sei ein Künstler. Ob Mietpreiswucher, der in Metropolen wie London besonders grassiere, oder die „neue deutsche Dunkelheit“ angesichts der „Inszenierung altkommunistischer Mangelbeleuchtung“ in Zeiten des ‚großen Lichtgeizes‘ – auch vor dem nur noch mit Taschenlampe und Lupe lesbaren Kleingedruckten des Zeitgeistwandels macht Goldt nicht Halt. Und selbst Paul Celans „Todesfuge“ ist keineswegs tabu und gerät ins Pointen-Visier.
Einen motivischen Rahmen des Leseabends bilden zudem wortspielerische Spitzen auf dem verminten Terrain gleichgeschlechtlicher Beziehungen. So eröffnet Goldt die Veranstaltung mit einem Text, der sich neben den ästhetischen Entgleisungen von Lampendesignern, deren Kreationen wie „metallene Riesenvögel mit Gleichgewichtsstörungen“ wirken, mit der mutmaßlichen Funktion eines Bidets sowie der Frage nach Sexualpraktiken von „Lesben“ befasst. Hierbei scheut sich der Satiriker nicht, eine Wortreihe aufzumachen, die über „Putze“ und „Tippse“ zu „Petze“ und „Tanke“ führt – wobei es sich allesamt auch um „durch Niedersachsen gluckernde Nebenflüsse der Leine handeln könne“; „Lesbierin“ dagegen klinge irgendwie nach „Würgerin“. Vielleicht um der Geschlechtergerechtigkeit willen schließt der Abend dann mit einem Text über die Schwierigkeiten, einem Mann im Beisein seiner Frau selbst in einer „anti-heteronormativen Gaststätte“ Komplimente zu machen... Dann plötzlich geht das Licht an – viel zu früh an diesem kurzweiligen Abend.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Inzest und Drogen
LesArt.Festival für Literatur in Dortmund – Festival 11/22
Kalauerkasse eines Kommunisten
LesArt-Literaturfestival: „Ein Abend für Wiglaf Droste“ am 9.11. im Domicil, Dortmund – Literatur 11/21
Verliebte VerliererInnen
„Nenn mich November“ mit Kathrin Gerlof am 8.11. im Literaturhaus Dortmund – Literatur 11/18
Wir fürchten nicht die Tiefe
Gelsenkirchener Buchhandlung setzt auf regionale Literatur – Lesezeichen 07/18
Festung gegen Festivals
Mülheim-Saarn: Literaturperle an der Ruhr – Lesezeichen 06/18
Rock'n'Roll im Buchladen
Multiplikator literarischer Kultur im Duisburger Norden – Lesezeichen 05/18
Ein Vierteljahrhundert literarische Akzente
Hammer Buchhandlung Holota feiert 25-jähriges Jubiläum – Lesezeichen 04/18
Schwerter Literaturoase
Ruhrtal-Buchhandlung belebt die Kulturszene – Lesezeichen 03/18
Neues Leben durch Mord?
Bernhard Aichners Trilogie-Finale beim Literarischen Herbst – Lesezeichen 12/17
Nicht unerwartet fantastisch
Marie-Luise Marjan und Herbert Knorr begeistern in Unna – Lesezeichen 11/17
Weltverändernde Bücher
Schauspielhaus Bochum startet neue Reihe – Lesezeichen 11/17
Deutsch-russischer Seelenkuss
Roman Dell liest in Gelsenkirchen – Lesezeichen 09/17
Auf der Suche
„Nichts Besonderes“ von Nicole Flattery – Klartext 10/23
Comic und Film Hand in Hand
Von, für und über Erwachsene – ComicKultur 10/23
Im Brackwasser der Geschichte
„Die Postkarte“ von Anne Berest – Textwelten 10/23
„Ständig die Frage, was diese komische Region zusammenhält“
Historiker Per Leo über sein Buch „Noch nicht mehr. Die Zeit des Ruhrgebiets“ – Literatur 10/23
Die Reichen und die Klimakrise
Autorin Ulrike Herrmann in Dortmund – Literatur 09/23
Persische Poesie
„Rumi – Dichter der Liebe“ von Rashin Kheiriye – Vorlesung 09/23
Die Frau hinter Frankenstein
Autor Markus Orths in Oberhausen – Literatur 09/23
Körperbewusstsein und Bauchgefühl stärken
„Mein Körper gehört mir – auch im Sport!“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 09/23
Ein Hoch auf die Häretiker
„Brauchen wir Ketzer?“ in Dortmund – Lesung 09/23
Selbstliebe statt Schönheitsideale
„Flauschig Mauschig“ von Nora Burgard-Arp – Vorlesung 09/23
Großalarm für Otakus
Manga Day 23 – Literatur 09/23
Roman zur Zeit
„Taormina“ von Yves Ravey – Textwelten 09/23
Klaustrophobische Comics
Eingerahmter Existentialismus zwischen Leben und Tod – ComicKultur 09/23