Experimentelle Vernetzung von Licht und Ton, analog und digital, real und virtuell, alt und modern, von lokalen bis internationalen KünstlerInnen verschiedener Generationen sowie drei Ruhrgebietsstädten als Austragungsort – das bot die Premiere des Off-Stream-Festivals „Blaues Rauschen“ über fünf Tage in Herne, Essen und Dortmund. Beim Blauen Rauschen steigt die Rauschenergie pro Oktave um 3dB an, schon an sich eine spannende Idee, das Rauschen, das man sonst eher auszumerzen versucht, künstlerisch auszuloten, frei nach dem Motto: Ist das Kunst oder kann das weg?
Das Event für experimentelle elektronische Musik der „open systems“-Festivalmacher will mit dieser Neuauflage wie schon mit anderen Festivals zuvor Kultur im Ruhrgebiet miteinander verbinden – und über das Ruhrgebiet hinaus, erklärte Initiator Eckart Waage beim Abschlusstag am Samstag in Dortmund. Im zum Teil blau ausgeleuchteten Evinger Schloss, dem sanierten Zentrum der Alten Kolonie, das auch das Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet beherbergt, wurde der Ausklang des Festivals gefeiert. Mit drei verschiedenen Live-Performances und einer Licht-Installation von Namia Leigh: Ein Plattenspieler mit einer durchlöcherten Platte und Lichtquellen an drei Greifarmen, das Drehen der Platte erzeugte ein buntes Lichtspiel, das an die Wand geworfen wurde. Ein Beispiel, wie man überholte Technik kreativ und modern umfunktionieren kann.
Die Live-Performance begann mit BLOORT, dem Ruhrpott-Duo Karl-Heinz Blomann und Richard Ortmann, die sich thematisch mit dem Ausstieg aus der Kohleindustrie beschäftigen. Rauschtöne aus dem Saxophon, elektronische Musik und realhistorische Zechenklänge aus dem Archiv bildeten eine spannende Einheit, begleitet von einem Mix aus Bergbau-Archivbildern und Live-Aufnahmen der Performance auf mehreren Röhren-Bildschirmen. Blomann ist zudem Ko-Initiator des Festivals.
Danach trat Balázs Kovács aus Pécs auf, der ungarischen Kulturhauptstadt Europas 2010. Wer glaubte, dass hinter seiner Performance kein Konzept stand, hatte in gewisser Weise recht: Live-Improvisation elektro-akkustischer Musik ist sein Steckenpferd, also die Einheit aus Live-Komposition und Aufführung, wobei der studierte Philosoph und Radiomacher die Harmonie in der Dissonanz zu finden sucht. Äußerst gelungen, denn immer kurz bevor die experimentellen Klangteppiche die Grenze zum Unangenehmen zu übertreten drohten, schraubte er den Spannungsbogen wieder herunter.
Den Ausklang im wahrsten Sinne des Wortes bot Musiker, DJ und „Oktaf“-Labelbetreiber Martin Juhl aka Marsen Jules aus Lünen, der die Zuhörer im fast stockdunklen Raum mit Ambient-Musik in andere Sphären entführte. Doch immer, wenn man sich in angenehme Trance entgleiten fühlte, holte Jules die Zuhörer zurück in den Schloss-Raum, zum Beispiel wenn die leiser werdenden Sphärenklänge durch das Ticken einer Uhr unangenehm störend übertönt wurden – man war versucht, sich suchend nach der Uhr im Raum umzuschauen. „Shadows In Time“ nennt sich denn auch diese Performance. Alteingesessene Dortmunder kennen Jules auch noch aus dem Club Cosmotopia, zudem war er 2009 für das deutsche Goethe-Institut als Kulturbotschafter für elektronische Musik aus Nordrhein-Westfalen unterwegs.
Insgesamt eine spannende Zusammenkunft an Vernetzung interessierter experimentierfreudiger KünstlerInnen abseits des Mainstreams, in Essen und Herne konnte man unter anderem Club Bleu und Mouse on Mars erleben. Der Workshop „Dis.GUI.sed“ für Jugendliche in Herne machte das Smartphone zum Mittelpunkt des technisch-kreativen Experiments, die Ergebnisse daraus wurden ebenfalls präsentiert.
Das Festival bot damit auch einen kritischen Blick auf die schnelllebige Technik-Entwicklung und die Wegwerfgesellschaft unserer Zeit und machte somit deutlich, dass Transformation ein besserer und spannenderer Prozess ist, der das Alte im Neuen mit aufnimmt. So auch die Transformation der open systems-Festivalreihe zum Blauen Rauschen, eine jährlich angedachte Offstream-Veranstaltung, die vor allem die junge Generation auf sich aufmerksam machen will. Mit rund 20 Besuchern am Abschlusstag ein sicher noch ausbaufähiges, aber wirklich empfehlenswertes Event.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Klang-Perspektive Ruhrgebiet
Elektronik-Festival Blaues Rauschen – das Besondere 10/18
Musikalische Messpunkte
1. Deutsches Stromorchester kratzt am 51. Breitengrad – das Besondere 09/18
Wannings Warm-Up
Dortmunder Domicil startet Summer Sessions mit Hans Wannings Elektro-Set – Musik 08/17
Missglücktes Rendez-Vous zu großer Musik
Ruhrtriennale: Die Ritournelle am 19.8. in der Jahrhunderthalle Bochum – Musik 08/17
Emika vereint alles
Emika am 15.1. in der Christuskirche Bochum – Musik 01/17
Mit oder ohne LSD
Krautrocker auf der ElectriCity-Konferenz über den Anfang elektronischer Musik
Satte Ernte
19. Juicy Beats erstmals noch vor Festivalbeginn ausverkauft – Festival 07/14
Elektrohippies
Juicy Beats-Festival mit Besucherrekord am 27.7. in Dortmund
Bits und Bässe
U-TOPIA-Festival überzeugte als neue Plattform für Elektro - Musik 11/12
Die kleinen Feinheiten
Bratze im Bahnhof Langendreer - Musik 09/12
„Ich frage mich immer, wann der Schwindel auffliegt“
Susanne Blech-Frontmann Timon-Karl Kaleyta über seinen radikalen Atheismus und die Kunst, sinnlose Texte zu schreiben - Musik in NRW 07/12
Schummerlicht und Glitzerhimmel
Suzan Köcher's Suprafon in der Bochumer Goldkante – Musik 12/24
Pessimistische Gewürzmädchen
Maustetytöt im Düsseldorfer Zakk – Musik 11/24
Komm, süßer Tod
„Fauré Requiem“ in der Historischen Stadthalle Wuppertal – Musik 11/24
Konfettiregen statt Trauerflor
Sum41 feiern Jubiläum und Abschied in Dortmund – Musik 11/24
Erste Regel: Kein Arschloch sein
Frank Turner & The Sleeping Souls in Oberhausen – Musik 10/24
Eine ganz eigene Kunstform
Bob Dylan in der Düsseldorfer Mitsubishi Electric Halle – Musik 10/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Matrix Bochum – Musik 10/24
Sich dem Text ausliefern
Bonnie ,Prince‘ Billy in der Essener Lichtburg – Musik 10/24
Improvisationsvergnügen
Das Wolfgang Schmidtke Orchestra in der Immanuelskirche – Musik 09/24
Essen-Werden auf links drehen
Cordovas im JuBB – Musik 09/24
Rock ‘n‘ Roll ohne Schnickschnack
Gene Simmons und Andy Brings in der Turbinenhalle Oberhausen – Musik 08/24
Vielfalt, Frieden und Respekt
3. Ausgabe von Shalom-Musik.Koeln – Musik 07/24
Die Ruhe im Chaos
Emma Ruth Rundle in Bochum und Köln – Musik 07/24
Musikalische Feier
Markus Stockhausen Group im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden – Musik 07/24