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Aus dem Gleichgewicht

27. Juli 2017

Gleich zweimal: Erwin Wurm in Duisburg – kunst & gut 08/17

Erwin Wurm ist sachlich. Er redet bedächtig mit eher leiser Stimme und steht nach der Pressekonferenz erst in der Küppersmühle und dann im Lehmbruck Museum geduldig für Fotos bereit und um seine Werke (und deren Gebrauch) weiter zu erläutern. Hier ist das besonders erwähnenswert, weil die Skulpturen und Installationen des Wiener Künstlers den blanken Wahnsinn zu verkörpern scheinen. Sie zeigen Dinge des Alltags in völliger Verformung. Sie führen das Vertraute, meist Banale ins Groteske, aber so, dass es jetzt erst recht zu erkennen ist. Wie die verkleinerten Modelle realer Architekturen, auf deren Formen Erwin Wurm gesprungen ist, so dass sie plattgedrückt und in sich verschoben wurden. Oder ein sich nach außen wölbendes Haus, das man betreten kann, und in seinem Inneren sieht man einen Film, in dem das Haus mit einem Gesicht aus Fenster und Tür über Sinn und Zweck seines Daseins nachdenkt: Ausgestellt waren diese Werke vor einiger Zeit im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal. Hinter dem Vorgehen von Erwin Wurm steckt immer die systematische Auseinandersetzung mit der Verfasstheit der Dinge, die uns umgeben. Referenz ist der menschliche Körper mit seinem Volumen und seiner Veränderbarkeit, wie sie etwa durch Bewegungen, Zu- und Abnehmen stattfindet. Bei Wurm wird das kaum Hinterfragte, mit dem wir uns eingerichtet haben, unheimlich.

Ronja Friedrichs
Foto: Privat

DIE KURATORIN
Ronja Friedrichs (*1987) ist Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehmbruck Museum, wo die Ausstellung in Abstimmung mit Jörg Mascherrek, Kurator am Museum Küppersmühle, entstand. Friedrichs studierte Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.


Nun stellt der 1954 geborene, weltweit gefragte und aktuell auch auf der Biennale Venedig vertretene Bildhauer dort aus, wo er sich mit seinem Werk bestimmt am wohlsten fühlt, im Lehmbruck Museum in Duisburg, das zu den international führenden Skulpturenmuseen gehört. Und seit Söke Dinkla das Haus leitet, geht es zielgerichtet seiner eigentlichen Aufgabe nach: Es thematisiert die Notwendigkeit und die Formsprachen von Skulptur zur Beschreibung des Menschen und seiner Lebenswelten in heutigen, weitgehend digitalen, virtuellen Zeiten.

Dazu aber hat Erwin Wurm eine Menge mitzuteilen. Im Lehmbruck Museum zeigt er etwa seine älteren „Drinking Sculptures“: Das sind unterschiedliche, auf dem Boden liegende Holzschränke, in die zwei Löcher zum „Betreten“ gesägt sind. Im Schrank selbst steht ein hochprozentiges Getränk mit Gläsern bereit. Dieses humorvolle Angebot spricht die eigenen Balance und die Wahrnehmung im Rauschzustand an. Mit den im Lehmbruck Museum dahinter tapezierten Montagen erzeugt Wurm dazu ein nostalgisch heimeliges, zugleich unangenehm kleinbürgerliches Milieu.

Natürlich hat dieses Kippen des Menschen aus der anatomisch sinnvollen Haltung viel mit den „One Minute Sculptures“ zu tun, mit denen Wurm vor zwei Jahrzehnten berühmt geworden ist. Auf der Grundlage textlicher Anweisungen und mit vorbereiteten Accessoires kann der Ausstellungsbesucher selbst die Aktionen für sechzig Sekunden ausführen – so nun auch am zweiten Ausstellungsort, dem Museum Küppersmühle im Duisburger Innenhafen. In der Küppersmühle umfasst zudem ein 90 Meter langer, mehrere Meter hoher Strickstoff die Wandflächen. Als Pullover, der den Menschen wärmt und vielleicht auch modisch formt, definiert er nun – von innen – den Ausstellungsraum. Hier wird erst recht deutlich, Wurms Arbeiten sind immer attraktiv und ziemlich sensationell in ihrer Absurdität. Damit ziehen sie die Aufmerksamkeit auf sich, sind fast populär und entfalten nach und nach ihre ganze Komplexität. Die Pointe ist bei dem so präzisen Bildhauer, der gesellschaftliche Phänomene filtert, immer nur das eine.

Der spannendere Teil der Ausstellung aber ist im Lehmbruck Museum zu sehen. Dort befinden sich auch Wurms skulpturale Klassiker: der zur Kugel aufgeblasene Mann, der die Erde verschluckt haben könnte, und der rotglänzende Sportwagen, dessen Sitze so wohlgenährt sind, dass kein Platz für den Fahrer ist – dem Menschen in seiner Proportionierung bleibt also nichts erspart. Und dann gibt es hier ebenfalls ganz neue Arbeiten zu betrachten: winzige Bronzeplastiken auf weißen Sockeln und beige-braune transparente Zeichnungen. Das Erste sind geschrumpfte Bergmassive unter dem Titel „Land der Berge“, das Zweite Malereien mit Kaffee namens „Vaterland“, und beides ist in dem Fall Österreich. Was Erwin Wurm macht, ist erstaunlich.

Erwin Wurm | Museum Küppersmühle in Duisburg | bis 3.9. | Lehmbruck Museum | bis 29.10. | 0203 3019 48 10 bzw. 0203 283 70 65

THOMAS HIRSCH

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