Die größte, tatsächlich leicht unterlebensgroße Skulptur von Stephan Balkenhol steht gleich am Eingang des Ausstellungsbereiches. Ein Stockwerk darüber geht es kleinformatig weiter. Aber die Ausstellung ist eine Überraschung. Weil sie einen konzentrierten Überblick über Balkenhols Werk seit Anfang der 1990er Jahre liefert und das gesamte Spektrum seiner Figurendarstellung mit ihren Metamorphosen umfasst. Und: Weil es sich um Bronzen handelt. Stephan Balkenhol wurde berühmt als Bildhauer, der dezidiert handwerklich in einer fast vergessenen Disziplin arbeitet. Er schlägt seine Figuren aus dem Holzstamm. Beispiele dieser Holzskulpturen waren – hier in der Region – vor eineinhalb Jahren im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal zu sehen: nüchtern sachliche, präzise gearbeitete Figuren zwischen Miniatur und Riese, platziert auf dem Boden und auf Sockeln. In Hagen haben wir es nun mit der Kleinskulptur zu tun. Sie ist ohnehin das Feld, auf dem sich Balkenhol mit Bedacht austobt und in dem er einen enormen Reichtum entwickelt hat, ohne das Terrain des prototypischen Ausdrucks zu verlassen. Die realistischen Figuren weisen eine enorme Vielfalt an Gesten und Bewegungen auf und wechseln noch in der Bekleidung.
Grundsätzliches Anliegen von Stephan Balkenhol aber bleibt, die Darstellung des Menschen von ihren historischen Beschwernissen und Bedeutungen zu lösen. Also, keine tiefgründige Psychologie, keine komplizierten Beziehungsgeflechte – oder doch? Dazu hat Balkenhol den Allerweltsmann dieser Tage in weißem Hemd mit schwarzer Hose in verschiedenen Posen „erfunden“. Dieser Mann im mittleren Alter blickt aufmerksam geradeaus. Im Laufe seines Werkes hat Balkenhol den Typus variiert, er stellt ihn mit freiem Oberkörper oder in Badehose dar, kombiniert ihn sogar mit mythologischen Motiven und gibt ihm zwei Gesichter (als Janus) oder fünf Arme (als Shiva). Er lässt ihn mit Tieren auftreten. Und ein Mann trägt einen anderen auf seinem Rücken. Dann wieder balanciert einer auf einer aufrecht stehenden Platte. Seltener kommen in Balkenhols Repertoire Frauen vor, wobei er für diese keine Standardkleidung entwickelt hat. Infolge der leicht rauen Holzoberflächen, die als Haare und Kleidung in den Lokalfarben angemalt sind aber die Hautpartien frei lassen, besitzen die Figuren auch im kleinen Format eine ziemliche Lebendigkeit. Sie sind überaus präsent und treten wie selbstverständlich auf.
Wie vielschichtig, tiefgründig, aber auch humorvoll das alles ist, zeigt nun die Ausstellung in Hagen, die die Bronzeplastiken als eigenen Kosmos vorstellt, und zwar mit rund vierzig Exponaten nahezu komplett. Möglich ist diese Vollständigkeit, weil die Bronzen mehrmals gegossen wurden. Teils begleiten sie die Großskulpturen und dienen noch zu deren Finanzierung. So stellt diese Ausstellung indirekt auch Balkenhols Beiträge im öffentlichen Raum vor. Die Bronzen sind ebenfalls naturalistisch farbig gefasst, die Oberfläche pulsiert dem Material entsprechend.
Von der oberen hinteren Galerie setzt sich die Ausstellung in die Räume für Christian Rohlfs und die Douglas Lounge fort. Dabei ergeben sich anregende Perspektiven, etwa wenn Milly Stegers Bronzeplastik „Jephtas Tochter“ (1919/22) auf einer Achse mit einer Sockelfigur von Balkenhol steht oder indem in der Douglas Lounge drei seiner Skulpturen in Vitrinen beleuchtet werden. Dort befindet sich seit längerem als Leihgabe Balkenhols „Große Relief“ (2010) aus Holz, das mehrere Männerköpfe in einem Gewässer zeigt. Plötzlich erkennen wir, warum diese Häupter so gelassen sind und dass sie, ebenso wie die Ganzfiguren, eine stille Größe auszeichnet. Kurzum, hier in der Ausstellung im Osthaus Museum versteht man plötzlich, was es mit Balkenhols Werk auf sich hat.
Stephan Balkenhol: Bronze-Editionen 1992-2014 | bis 27.3. | Osthaus Museum Hagen | 02331 207 31 38
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