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Jonas Ott
Foto: Lucas Wahl / Greenpeace

„Windenergie verfünffachen“

27. Oktober 2021

Ingenieur Jonas Ott über den Stand der Windenergie in Deutschland – Teil 2: Interview

trailer: Herr Ott, zu welchem Anteil wird unser Strom bereits aus Windenergie erzeugt? Und wie sieht der europäische Vergleich aus?

Jonas Ott: Dieses Jahr wurden bisher in Deutschland etwas über 20 Prozent des Stroms mit Windkraft erzeugt. Dieser Anteil schwankt etwas über die Jahre, Monate und Wochen, da ja nicht immer gleich viel Wind weht. In diesem Jahr ist er niedriger, weil wir ein weniger windstarkes Jahr hatten. Durch den aktuell hohen Gaspreis steigt die Verstromung aus klimaschädlicher Braunkohle erneut, auch weil der Ausbau von günstigem Wind- und Solarstrom in den letzten Jahren stark ausgebremst wurde. Im Jahr 2020 dagegen bestand mehr als die Hälfte der Stromversorgung aus erneuerbaren Energien – hier müssen wir jetzt in unsere Zukunft investieren. In Deutschland haben wir rund 30.000 Windanlagen, mit einer installierten Leistung von gut 56 Gigawatt. Das muss auf mindestens 180 Gigawatt steigen, um die Energiewende zu vollenden. Damit die klimagerechte Stromversorgung gelingen kann, muss die neue Bundesregierung sofort die regulatorischen Hemmnisse beseitigen. Im europäischen Vergleich steht Deutschland nicht gut da. Während der 16 Jahre Blockade-Politik, insbesondere durch die Union, haben nach 2011 über 100.000 Menschen ihre Jobs in den Branchen der Erneuerbaren Energien verloren. Andere Länder haben einen viel größeren Anteil an erneuerbarem Strom und erneuerbarer Wärme. Beispielsweise Norwegen erzeugt seinen Strom insbesondere mit Wasserkraft. Dänemark, das landschaftlich und strukturell recht nah an Schleswig-Holstein herankommt, bezieht seinen Strom vor allem aus Wind. Teils gibt es hier sogar mehr Strom, als vor Ort verbraucht werden kann. Dann wird der Strom über sogenannte Hochspannungsgleichstromübertragungs-(HGÜ)-Kabel nach Norwegen transportiert und in Pumpspeicherkraftwerken gespeichert. Ich sollte aber vielleicht dazusagen, dass wir hier nur vom Stromsektor sprechen – die Energiewende beinhaltet auch eine Wende des Wärme- und Verkehrssektors; die werden in Deutschland zu über 80% mit fossilem Gas, Öl oder klimaschädlicher Biomasse befeuert.

Über 100.000 Menschen haben ihre Jobs in den Branchen der Erneuerbaren Energien verloren“

Was sind die größten Probleme bei der Windenergie?

Technisch gesehen sind die Probleme marginal und mögliche Risiken sind absolut kontrollierbar im Vergleich zu den immensen Gefahren von Atomkraft oder Kohlestrom. Ein Problem stellt die Wiederverwertbarkeit der Rotorblätter aus Glasfaserverbundmaterial dar. Hier besteht noch Forschungsbedarf, damit Windkraft in eine Kreislaufwirtschaft überführt werden kann. Das eindeutig größte Problem in Deutschland ist die herrschende Verhinderungspolitik. Als Beispiel sei die 1000m-Abstandsregelung genannt, welche die NRW-Landesregierung unter Kanzlerkandidat Laschet am 1. Juli dieses Jahrs beschlossen hat. Ähnliches gilt in Bayern. Dort haben Seehofer und Söder 2014 ein de facto Verbot von Windkraft im größten Flächenbundesland eingeführt. Teilweise halten sich auch Mythen, wie zum Beispiel, dass Windräder schädlichen Infraschall erzeugen würden. Das ist zwar wissenschaftlich längst widerlegt, allerdings korrigierte die aus Steuermitteln finanzierte Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) erst im Anfang 2021 eine von ihr veröffentlichte Studie, in der sie über 16 Jahre lang 4000-mal zu hohe Infraschall-Belastungen für Windkraft angegeben hatte. Bundesminister Peter Altmaier musste sich für Verfälschung der Werte entschuldigen, die als Pseudo-Argumente für Windkraftgegnerinnen und -gegner dienten.

Biodiversitäts-, Klima- und Soziale Krise können nur gemeinsam gelöst werden“

Auch Naturschützer sprechen sich häufig aus Gründen des Arten- und Naturschutzes gegen Windanlagen aus. Wie positioniert sich Greenpeace an dieser Stelle?

Auf der einen Seite haben wir die Biodiversitätskrise und auf der anderen Seite die Klimakrise, die beide Hand in Hand gelöst werden müssen. Wir sind auch der Meinung, dass die Lösung beider keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden darf. Nur als ein Beispiel: Die Kiefernwälder, also Monokulturen von Waldbauern und Waldbäuerinnen, mit geringer Klimaresilienz und Biodiversität, sind durch Borkenkäfer-Befall erheblich geschrumpft. Die Waldbauern und Waldbäuerinnen haben jetzt Einkommensverluste, weil sie ja weniger Holz verkaufen können. Diese Verluste können durch Windenergie an diesen Standorten ausgeglichen werden. Die Einnahmen aus Windstrom, die sich daraus ergeben, würden sie auf der einen Seite finanziell absichern und können außerdem in eine Wiederbewaldung fließen und so führt Klimaschutz im Energiesystem direkt zu mehr Biodiversität, also Arten und Naturschutz. Die Biodiversitäts-, die Klima- und die Soziale Krise können nur gemeinsam gelöst werden. Angesichts der schon heute existierenden Naturschutz-Auflagen zur Errichtung von Windrädern ist es beispielsweise auch gar nicht möglich, in Naturschutzgebieten oder Zugzonen von Vögeln Windkraftanlagen zu errichten.

Wie wirkt sich die Erderhitzung auf die Windenergie aus, beispielsweise durch windstille Sommer?

Studien zu dem Thema sind mir nicht bekannt, aber meines Wissens ist die Abweichung aktuell noch in einem Bereich, die durch einen erhöhten Zubau von Windleistung ausgeglichen werden kann. Wichtig ist, dass man die Windenergie nicht isoliert betrachtet, sondern gemeinsam mit der Photovoltaik im Stromsystem. Und die solare Einstrahlung nimmt durch die Erderhitzung stetig zu. Unabhängig davon ist es wichtig, dass wir die jährliche Zubaurate der Photovoltaik mindestens verdreifachen und bei der Windenergie sogar verfünffachen. Wir brauchen schlichtweg mehr Kapazitäten, damit auch in schlechteren Jahren genug grüner Strom erzeugt werden kann. Um die Versorgung zu gewährleisten, muss auch das europäische Stromnetz weiter ausgebaut werden, sodass grüner Strom länderübergreifend transportiert werden kann. Was nicht funktionieren wird, ist, dass man irgendwo zentral den einen großen Windpark baut. Vielmehr brauchen wir überall einen dezentralen Ausbau von Wind- und Solarkraft.

Etliche absurde politische Regelungen, die den Ausbau der Erneuerbaren blockieren“

Ist es denn realistisch, bei unserem hohen Bedarf ein stabiles Stromnetz nur über erneuerbare Energien speisen zu lassen?

Ja. Der SAIDI-Index belegt, dass das Stromnetz und die -versorgung immer stabiler wird. Das ist der Index, der die durchschnittliche Dauer von Blackouts angibt. Und die durchschnittliche Blackout-Zeit hat sich in den vergangenen 15 Jahren quasi halbiert. Zugleich wird ja unser Strom prozentual zu einem immer größeren Anteil durch erneuerbare Energien generiert. Die zunehmende Sicherheit liegt aber vor allem auch daran, dass die Netzsteuerung sich deutlich verbessert hat und sich die beiden großen erneuerbaren Energiequellen Windenergie und Photovoltaik in ihrer Stromerzeugung bisher gut ergänzen. Wenn also nachts kein Solarstrom eingespeist werden kann, gleicht die Windkraft das aus. Gleiches gilt im Winter: es gibt im Verhältnis mehr Windstrom als Sonnenstrom. Damit sich Solar- und Windstrom weiter so gut ergänzen, muss beides gleichzeitig massiv ausgebaut werden. Allein mit Solarenergie kann der Stromsektor nicht klimaneutral werden. Bei der Netzsteuerung ist das sogenannte „Demand Side Management“ wichtig, also die clevere Steuerung des Strombedarfs. So kann man beispielsweise nachts die Waschmaschine laufen lassen, wenn erneuerbarer Strom vorhanden, aber anderweitig nicht genutzt wird. Das muss zusehends mit ganzen Industriezweigen gemacht werden: Energie clever dann verbrauchen, wenn sie sauber vorhanden ist. Auch das führt zumehr Stabilität in unseren Stromnetzen und Energieversorgung.

Was muss getan werden, um Windenergie weiter zu fördern?

Es gibt etliche absurde politische Regelungen, die den Ausbau der Windenergie und anderer Erneuerbarer blockieren. Diese Regelungen müssen umgehend abgeschafft werden, nur so kann insbesondere die Windkraft zu einem klimaneutralen Energiesystem bis 2040 liefern. Um nur drei politische Blockaden zu nennen. Ersten, das Paradebeispiel sind die regelrechten Windausbau-Verbote von Laschet in NRW und Söder in Bayern. Zweitens sollten durchschnittlich zwei Prozent der Bundesfläche für die Windkraft verfügbar gemacht werden – die entgegenstehenden regulatorischen Hemmnisse müssen abgeschafft werden. Drittens ist die EEG-Förderung aktuell gedeckelt, dabei muss sie unbedingt erhöht werden, um den Zubau der Solarenergie mindestens zu verdreifachen und den der Windenergie zu verfünffachen. Dass die Förderung und Ausbau nicht geschieht, darf nicht mit Kosten begründet werden, denn der Weg zu einem zu 100 Prozent erneuerbaren Energiesystem würde pro Jahr nur rund 50 Milliarden Euro kosten. Als Vergleich hierzu: Allein der diesjährige Hilfsfonds für die Flutkatastrophe in Westdeutschland umfasst 30 Milliarden Euro. Wenn wir unser Energiesystem jetzt nicht klimaneutral gestalten, dann werden uns dieKosten für die Klimakatastrophe sprichwörtlich um die Ohren fliegen. Und es ist klar, dass das nur der Anfang ist und wir in Zukunft bei den Kosten für Klimakatastrophen mit noch viel höheren Größenordnungen rechnen müssen.


GRÜNE ENERGIE 2030 - Aktiv im Thema

energiewende.de | Die Seite des Öko-Institut e. V. ist Informationsportal zu Energiewende, Klimaschutz und Umstieg auf erneuerbare Energien.
transition-initiativen.org | Der Verein unterstützt Initiativen für einen nachhaltigen Städtewandel; portraitiert im französischen Dokumentarfilm „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“ (2016) und in einer Arte-Reportage.
sonneninitiative.org | Der Verein für Umweltschutz und Energiewende fördert den Bau von Bürgersolarkraftwerken.

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Interview: Verena Düren

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