Fast täglich kann man ihn jetzt vernehmen: den tiefen Seufzer der Erleichterung, wenn in NRW Bürotüren ins Schloss fallen oder Blaumänner am Haken landen. Ab in den Urlaub, jene über Jahrhunderte erstrittene „offizielle vorübergehende Freistellung von einem Dienstverhältnis“ (Duden), die ihren Ursprung in der ritterlichen Bitte um „Erlaubnis“, den Hof verlassen zu dürfen, hat. Damit der gesetzlich geregelte Anspruch auf vier Wochen Jahresurlaub aber auch wirklich zur Erholung wird, können ein paar literarische Tipps bestimmt nicht schaden:
Besonders schwer trifft es in diesem Jahr mal wieder die Fußballfans in den Familien schulpflichtiger Kinder. Wer seine Reiseroute nicht am Spielplan ausrichtet, wird den Saisonstart seiner Mannschaft nur aus der Ferne verfolgen können. Wenn überhaupt. Ein ausgewachsenes Ferientrauma droht – würde uns nicht Christian Ulmen mit seiner Hörbuchfassung von Ronald Rengs „andere(r) Geschichte der Bundesliga“ (tacheles) die Zwangsenthaltsamkeit versüßen: eine mitreißende Zeitreise aus skurrilen, bisweilen nachdenklich stimmenden Anekdoten von Fußballunikat Heinz Höher, der als Spieler, Trainer, Sportdirektor und Talentscout die Liga von ihrer ersten Sekunde bis zu ihrem 50jährigen Jubiläum hautnah miterlebt hat. Sprich: Höher schickt Reng mit unnachahmlichem Spielwitz auf der Außenbahn auf die Reise. Reng verarbeitet den Steilpass kongenial, indem er mit stilistisch feinen Übersteigern seinen Gegenspieler vernascht und auf den freistehenden Ulmen flankt. Der bräuchte eigentlich nur noch humorlos wie „der Bomber“ einzunetzen, doch Ulmen lässt es sich nicht nehmen, mit all seiner Rhetorik das Leder mal mit der Hacke, mal per Fallrückzieher oder schelmisch durch die Hosenträger des Keepers über die Linie zu bugsieren. Die Meute tobt.
Die Blagen hingegen geben erstaunlicherweise mal Ruhe. Manchmal zahlt es sich eben doch aus, noch ein paar Bücher ins Handgepäck zu schmuggeln und zu beten, dass keiner von der Fluggesellschaft mit einer Gepäckwaage durch die Reihen stapft. Der 8jährige Filius jedenfalls ist völlig versunken in Katrin Kochs fantasievolle Kindererzählung „Wär ich Pirat …“ (Peter Hammer). Mit Witz und Einfühlvermögen spiegelt sie die Gedanken und Sehnsüchte eines Zweitklässlers (frech illustriert von André Rösler). Aber Achtung: Nicht dass sich der eigene Sohnemann plötzlich zu sehr mit seinem literarischen Spiegelbild identifiziert und selber auf Reise geht. Jenny Broom und Nahta Nójs Stickerbuch „Kunterbunte Tiere“ (Sauerländer) mit einzupacken, war allerdings ein wenig gedankenlos. Die (restlichen der) über 2.000 Aufkleber sowie die 3D-Brille haben definitiv Strandverbot. Dafür herrscht zur Siesta jetzt absolute Ruhe, wenn die 5Jährige aus den geometrischen Formen ihr eigenes Bestiarium entwirft.
Apropos Bestie: Wer ahnungslos zu Joe R. Landsdales Thriller „Gluthitze“ (Suhrkamp) gegriffen hat, wird sich mit weit aufgerissenen Augen fragen, wie er überhaupt Kinder in diese Welt setzen konnte. Ob seine Neo-Western oder eben diese Hard-Core-Crime-Ballade, die Werke des Texaners haben nichts gemein mit ihren weichgespülten Gattungsgeschwistern. Wütend, radikal, zugleich subversiv soziophilosophisch. Der einstige Starjournalist und Irakkriegsveteran Cason Statler kann auch als abgehalfterter Lokalreporter in seinem Heimatkaff nur konstatieren: Das Böse liegt in der menschlichen Natur. Zum Fürchten! Ob es wirklich eine so gute Idee ist, im nächsten Urlaub Dan Kierans Beispiel zu folgen und mit einem klapprigen Milchwägelchen durch England zu zockeln? Es sind ja nicht immer nur Hase und Igel, die sich am einsamen Wegesrand Gute Nacht sagen. Andererseits möchte ich auch nicht wissen, was zum Beispiel unter der Schädeldecke dieses krebsroten Monsters in der Handtuchreihe vor mir gärt und siedet. Der Unterschied zwischen Urlaub und Reisen ist eben doch ein himmelweiter, das eine die schlichte Erlaubnis, blauzumachen, während das andere regelrecht zum „Slow Travel“ (Rogner+Bernard) verpflichtet – im gemächlichen Fluss mit Hummeln und Wolken.
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