„Der Flüchtling“ ist längst eine Bühnenfigur. Kein Thema beherrschte die Bühnen im letzten Jahr so sehr, wie die Bewegungen von Menschen von A nach B, die Reaktionen der Menschen in B und was da eigentlich in A so im Argen ist, kurzum: die inzwischen erfolgreich von allen Seiten zur Zeitenwende hochstilisierte „Flüchtlingskrise“. Ist ja auch ein spannendes Thema. Ja, mit diesen Menschen kommt eine Bibliothek an Geschichten. Aber inzwischen füllen auch die in den letzten Jahren entstandenen Flüchtlingsstücke einige Regalreihen, eine zweite, wenn man theaterpädagogische Projekte noch dazu nimmt – und wir wissen es alle, da finden sich nicht nur Schätze. Ist halt auch ein schwieriges Thema. Und jetzt auch noch „Fluch(t)“ von Theater Lebendich, ein Jugend-Theaterstück nach Jane Tellers didaktischer Kurzerzählung „Krieg – Stell dir vor, er wäre hier.“ Was kann das werden?
Eins vorweg: es kann ziemlich gut werden. Klar, für Jugendtheater-Verhältnisse gut. Aber dabei geht es ja sowieso nicht (nur) um nackte Qualität, hier kann man viel mehr lernen. Doch erst einmal zum Setting der Geschichte: In Europa herrscht Krieg, denn Deutschland hat die EU aufgegeben und die EU sich selbst. Also macht sich eine deutsche Familie auf in die einzig erreichbare Region, in der noch Frieden herrscht: in den Nahen Osten.
Die Idee ist schlicht, aber gut. Denn zu seinem großen Glück muss sich der Zuschauer nicht mit naiven Vorstellungen der Darsteller auseinandersetzen, wie sie sich eine Flucht aus Syrien vorstellen, auch drängen uns keine großen Gesten zu einem Mitleid, dass man eigentlich erwecken, nicht erzwingen müsste (alles schon gesehen) – hier sprechen Jugendliche darüber, was Ihnen an ihrer Welt fehlen würde, müssten sie sie von heut auf morgen verlassen. Das ist glaubwürdig. Zum einen grundsätzlich, und zweitens weil einige die Laien-Darsteller wirklich gut spielen. Nicht umsonst hat das Team den Preis fürs beste Schauspiel bekommen, beim Jugendtheaterfestival Dortmund im letzten Jahr.
Der Preis der unschuldigen Glaubwürdigkeit: Wie selbstverständlich reproduzieren die Jugendlichen Klischees auf beiden Seiten. Freiheit, den Markenkern Europas, werden sie am meisten vermissen – als ob es Freiheit nur in Europa gäbe, als ob der effiziente Westen so frei ist, wie er tut. Und im ägyptischen Flüchtlingslager sind Burka tragende Frauen die fiesesten Aufseherinnen, die Männer und Frauen trennen und damit Mutter, Schwester und Sohn.
Schlimm, wa? Total politisch unkorrekt und so. Unsensibel. Und genau deshalb genau richtig: Die Burka als unhintergehbare, letztgültige Inkarnation „der Anderen“, die somit ihr Gesicht verliert, ihr Lächeln, ihren Blick und nichts mehr bleibt als das diffuse „Andere“ – welches Symbol eignet sich bitte besser, um fühlbar zu machen, warum sich ein Mensch gegen all das sträuben könnte, was sich hinter dem Hohlwort „Integration“ verbirgt? Was verkörpert die Angst vor dem Anderen besser als eine Maske? Klar, von „fertigen“ Theatermachern könnte man etwas mehr Fingerspitzengefühl verlangen. Was aber den Jugendlichen gelungen ist, und das gelingt nicht vielen vergleichbaren Theaterprojekten: Sie haben ein Bild, einen plakativen Slogan gefunden, dass ihr ganzes Stück auf den Punkt bringt: Stell dir vor, es ist Krieg, und nur der Islam kann dich retten. In der Realität hieß es: Es ist Krieg, und Frieden gibt es nur an der Quelle des Waffenstroms, tief im Westen.
Fragt man die Jugendlichen, wer sich ihr Stück vielleicht mal ansehen sollte, kommen viele Antworten. Aber die erste von einer jungen Frau in Lederjacke wie aus der Pistole geschossen: „Die AfD.“ Die Hoffnung, von einem AfD-Mitglied so etwas wie Reflektion zu erwarten, ist zwar naiv. Aber: dieses Stück kann zum Umdenken anregen – und ist damit, trotz seiner Macken, trotz seiner jugendlichen Art, auch der einen oder anderen professionellen Produktion, die sich im Mitleidsgestus erschöpfen, um einiges voraus.
Auf die Beine gestellt wurde das Stück vom freien Theaterprojekt Theater Lebendich (Regie: Melanie Nagler) und dem Respekt Büro Dortmund. Wer Lehrer ist, und statt Don-Carlos-Exegese mal Deutschunterricht betreiben will: Holt das Stück an eure Schule, ruft an unter 0163 8987594.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Helfen oder Hetzen
„Die Mission der Lifeline“ mit Markus Weinberg am 17.6. im endstation.kino – Foyer 06/19
Bindung nach der Flucht
Lesung „Hotel Dellbrück“ von Michael Göring am 12.2. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 02/19
Identität des Individuums
Filmvorstellung und Diskussion zu „Appuntamento ai Marinai“ am 1.8. im dezentrale in Mülheim – Foyer 08/18
Where’s the problem?
Vortrag mit Diskussion „Europa nach der Migrationskrise?“ am 20.6. im KWI Essen – Spezial 06/18
Befreiung von einer Burka
„funny girl“ in Herne – Theater Ruhr 06/18
Dorf gegen Despoten
„Dorf in Flammen“ am 3.8. im Bahnhof Langendreer in Bochum – Theater 08/17
Amputation ohne Narkose
Transnationales Ensemble Labsa zeigt am 20.7. bei der „Tomorrow Club-Kiosk-Edition“ in Dortmund den Film „Blackbox Merih“ – Spezial 07/17
Filmische Flüchtlingsgespräche
„Das verlorene Paradies“ am 14.3. im Dietrich-Keuning-Haus – Foyer 03/17
Die Einsamkeit wegtanzen
„Place to be: Shared“ am 5.3. im Theater im Depot, Dortmund – Bühne 03/17
Der Gutmensch als Garant der Zivilisation
Lesart zum Thema Helfen am 14.2. im Essener Grillo-Theater – Literatur 02/17
Mittelalterliche Zahlenmystik
Thilo Sarrazin und Wolfgang Bosbach in Gut Mausbeck, Bochum am 19.6.
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24