Schon zum dritten Mal findet in diesem Jahr in Oberhausen-Sterkrade der „Sterkrader Lesesommer“ statt, ein buntes Programm, das orts- und bürgernah Literatur in all ihren Facetten unters Volk bringen soll. Sterkrader Stadtgeschichte, Krimi-Kaffeekränzchen oder eine Lesung in der Turnhalle unter dem Motto „Lesen. Laufen. Lauschen.“ für Kinder mit Bewegungsdrang – das Programm ist bunt gefächert. Und mitten in dieser gemischten Tüte ein besonderer literarischer Leckerbissen aus dem hohen Norden. Das engagierte Team des Literaturhauses Oberhausen eröffnet für einen Abend eine Dependance in Sterkrade und präsentiert den Hamburger Kult-Autor Frank Schulz.
Für den Ortsfremden gestaltet sich die Anreise nicht leicht, befindet sich doch das Jugendhaus „GOT (Ganz Offene Tür)“ in der Fußgängerzone, was zu einer ungewollten Ehrenrunde auf dem als Einbahnstraße fungierenden Ring rund um das Sterkrader Zentrum führt. Eher unscheinbare Plakate weisen schließlich den Weg ins ehemalige Gästehaus der Gutehoffnungshütte. Der Veranstaltungsraum ist jedoch gut gefüllt und der Autor sichtlich und ehrlich erfreut über den großen Zuspruch.
Hartmut Kowsky-Kawelke, Gastgeber und Moderator des Abends, erzählt zunächst, wie er beim Besuch eines belesenen Hamburger Freundes in dessen Regal auf ein Buch des reißerischen Titels „Onno Viets und der Irre vom Kiez“ gestoßen und kurz darauf vom Onno Viets-Fieber befallen worden sei. Die Trilogie um den antriebslosen Privatdetektiv hat dem Autor den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor eingebracht. In seinem jüngst erschienenen Erzählband „Anmut und Feigheit“ jedoch, der im Zentrum der Lesung steht, schlägt Schulz auch nachdenkliche, wehmütige Töne an. In den „Szenen in Beige“, mit denen Schulz die Lesung startet, lässt Schulz altbewährt Witz und höchste Formulierungskunst aufblitzen. Das Publikum lässt sich von seinem norddeutschen Zungenschlag in den Bann ziehen und begleitet so den Kulturamtsmitarbeiter Kortsch, der kürzlich seinen 60. Geburtstag begangen und somit die Schwelle zum „Juniorsenior“ – in Abgrenzung zu den wirklich alten Leuten, den Seniorsenioren – überschritten hat. Frotzeleien mit seiner „Betreuerin“ titulierten, weitaus jüngeren Lebensgefährtin, reizen zum Lachen, doch bereits in dieser Geschichte lauert unter Wortwitz und Situationskomik ein Anflug von Vergänglichkeit.
Nach einer kurzen Pause plaudert Schulz darüber, dass er eigentlich drei andere kurze Geschichten habe vorstellen wollen, doch seine „Betreuerin“ (autobiographische Anspielungen und Querverweise finden sich zuhauf in seinem Werk) habe ihm von der ursprünglichen Auswahl abgeraten, da diese zu deprimierend gewesen sei. Eine Kostprobe dieses melancholischen, trostlosen Tonfalls gibt Schulz mit der Geschichte „Geliebte mein im Schuhkarton“ dann aber doch. Ein einsamer Mann, der in stiller Obsession das Leben der Nachbarin beobachtet. Kein Stalker im eigentlichen Sinne, sondern ein unglücklich Verliebter, der sich seines übergewichtigen Körpers schämt. Um das Publikum nicht zu lange in trübsinniger Stimmung zu halten, führt Schulz mit der nächsten Geschichte in eine Kneipe der 80er Jahre. Während Irmi am Spielautomaten auf den ganz großen Gewinn hofft, verfolgen andere Kneipengäste, wie ein 17-Jähriger in Wimbledon Tennisgeschichte schreibt. In den Kneipendialogen stellt Frank Schulz aufs Neue sein Gespür für gesprochene Sprache unter Beweis – und als virtuoser Vorleser lässt er die Szene lebendig werden. Zu guter Letzt liest der Autor noch in eine längere Geschichte hinein, die für Schulz-Fans ein Wiederhören mit alten Bekannten mit sich bringt: Bodo Morten, Kolk, Satschesatsche und all die anderen Gestalten, die die „Hagener Trilogie“ bevölkern, sammeln in den 70er Jahren erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Ob Bodo Morten allerdings die ersehnte Chance bei Karin Kolk erhalten wird, lässt Schulz offen. Um das herauszufinden, müssen sich die Zuschauer schon das Buch kaufen.
Im anschließenden Gespräch stochert Kowsky-Kawelke noch einmal nach, ob es weiteren Lesestoff um den noppensockenbewährten Detektiv Onno Viets geben wird. Ganz von der Hand weisen will Schulz dies nicht, schließlich lässt die Trilogie einige Handlungsfäden unverknüpft. Ob es allerdings einen weiterer Roman geben wird oder möglicherweise einen Band mit Viets-Episoden, das wird sich zeigen.
Sehr offen schildert Schulz im Gespräch, wie hin- und hergerissen er war, die zweite Erzählung in den Band aufzunehmen. In „Rotkehlchen“ schildert er sehr eindringlich und ohne fiktionale Distanz den Tod seiner Mutter. Entstanden ist ein Dokument der Hilflosigkeit gegenüber dem Krankenhausapparat und dem Tod – gleichzeitig eine zärtliche Liebeserklärung an seine Mutter. Ein großes Glück für die Leser, dass sich der Autor zur Veröffentlichung durchgerungen hat.
Nächster Gast des Literaturhauses Oberhausen ist Theresia Enzensberger. Sie liest am 7. September aus ihrem Roman „Blaupause“ – dann wieder im Stammhaus an der Marktstraße 146.
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