Ganz im Osten des Ruhrgebiets gibt es eine völlig zu Unrecht oft vergessene kleine Stadt, die mit ihren vielen Fachwerk-Häusern nicht nur architektonisch, sondern auch kulturell sowie u. a. als ‚Hauptstadt‘ des internationalen Festivals „Mord am Hellweg“ literarisch einiges zu bieten hat: Die Rede ist von Unna. Mit dem dort etablierten Westfälischen Literaturbüro verfügt die 60.000-Einwohner-Gemeinde über eine renommierte Institution, die durch das 2012 ins Leben gerufene Netzwerk-Projekt „Literaturland Westfalen“ mit seinem die Aktivitäten in der gesamten Region vernetzenden Online-Literaturkalender bundesweit eine Vorreiterrolle einnimmt. In der ehemaligen Hansestadt wurden bereits große Literaturveranstaltungen durchgeführt und die lokalen Akteure wie die kommunalen Kulturbetriebe, VHS und Bibliothek, die Buchhandlung Hornung sowie die Lindenbrauerei sind bestens vernetzt. Darunter auch das Zentrum für Information und Bildung, das immer wieder spannende Literaturveranstaltungen organisiert und 2017 mit einer literarisch-kulinarischen Reihe durchstartet, in deren vierteljährlichem Turnus am 11.2. die vietnamesische Küche und Literatur auf dem Programm stand: So präsentierte Anne-Katrin Schlegel unter dem Motto „Geschmack der Sehnsucht“ den berührenden (in der deutschen Übersetzung gleichnamigen) Exilroman der in Vietnam geborenen Frankokanadierin Kim Thúy, während Ines Nieders-Mollik mit fernöstlichen Leckereien für das leibliche Wohl sorgte.
In ihrem 2013 im frankokanadischen Original erschienenen, nach der Protagonistin „Mãn“ benannten insgesamt dritten Roman, der stark autobiographische Züge trägt, beschreibt die 1968 in der ehemaligen südvietnamesischen Hauptstadt Saigon geborene Kim Thúy eine Exiljugend in Québec, wohin die Autorin selbst den Wirren nach dem vietnamesischen Bürgerkrieg 1978 zusammen mit ihren Eltern als ‚boat people‘ entflohen war. Im Roman wird die junge Mãn, die ihren Vater nicht kennt, zwischen insgesamt drei Frauen weitergereicht, bevor sie von einer Lehrerin für längere Zeit aufgenommen und schließlich mit einem wesentlich älteren Exilanten verheiratet wird. Den Lebensunterhalt bestreitet sie zunächst durch das Betreiben einer Suppenküche, wo sie sich auf ein frühes Vermächtnis der Mutter besinnt: „Immerhin lernte sie noch vor dem Verlust ihrer Mutter, Kokosmilch zu gewinnen, indem sie Kugeln aus geraspeltem, mit warmem Wasser getränktem Fruchtfleisch mit den Händen ausdrückte. Leise flüsternd lehrten die Mütter ihre Töchter kochen, damit nicht Nachbarinnen die Rezepte stahlen und womöglich mit den gleichen Gerichten deren Männer verführten. Kulinarische Traditionen wurden heimlich weitergegeben, wie Zaubertricks vom Meister an den Lehrling, immer nur eine einzelne Fertigkeit im Rhythmus der alltäglichen Verrichtungen.“
Der Name ‚Mãn‘ bedeutet soviel wie ‚vollkommen zufrieden‘ oder ‚dass alle Bitten erhört wurden‘. Durch die Kochkunst ihrer Heimat gewinnt die Protagonistin die Herzen der Menschen – etwa, als sie einem alten Exilanten eine Suppe zubereitet und dieser darauf beseelt konstatiert, er habe „sein Land geschmeckt“. Ihr eigener Mann wird ihr zunehmend vom Fremden zum vertrauten Anker in der Anonymität der Metropole Montréal. Spirituell ist Mãn beseelt vom Glauben, „dass wir sind, wer unsere Ahnen waren“ und akzeptiert ihr Schicksal wie das Wetter, über das die Südvietnamesen nicht zu sprechen pflegen, da es einfach hingenommen wird. Und doch umgibt Mãn mit ihrer schicksalsschweren Lebensgeschichte eine Aura, die den Einheimischen Respekt einflößt: „Nur Kunden aus Québec, die ein vietnamesisches Kind adoptiert hatten, wagten mir offen zu begegnen.“
Ähnlich wie die Autorin Kim Thúy setzt sich Mãn zum Ziel, im Exil die Kultur ihres Landes weiterzutragen. Die Sprache der Gewürze ist hierbei zugleich die der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, und jedes Kraut erzählt eine eigene Geschichte, jede Zutat hat eine besondere Bedeutung, wovon sich die über 20 Gäste bei der ausverkauften Veranstaltung in drei kulinarischen Episoden an diesem Abend selbst ein Bild machen können – vom einfachen, jedoch sättigenden vietnamesischen Frühstück über ein raffiniertes Fischgericht bis zum wunderbaren Nachtisch, der u. a. in geeister Banane mit Schokoladenglasur besteht. Mãn verfasst ein Rezeptbuch und es dauert nicht lange, bis ihr ein Fernsehsender in Aussicht stellt, die Köchin und ihre hohe Kochkunst zu portraitieren. Der Erfolg verleiht der Protagonistin die Kraft, sich endlich auch ihren Sehnsüchten zu stellen und sich von ihrer Ehe zu emanzipieren. Hierbei hilft ihr eine sicherlich auch kulturell bedingte Qualität: „Ich hatte die Fähigkeit, mich wie auf Knopfdruck von einem bewussten in einen unbewussten Zustand zu versetzen. […] Noch bevor mich ein verletzender Satz treffen konnte.“ Mit ihrem Liebhaber Luc wird die Möglichkeit einer Liebesbeziehung auf gleicher Augenhöhe erstmals real, und unmerklich nimmt der Roman märchenhafte Züge eines wunderbaren Tagtraums an; wie die Protagonistin beschleicht einen plötzlich die Angst, jemals wieder daraus aufwachen zu müssen...
Die unter anderem für die gute Küche verantwortliche Ines Nieders-Mollik und Vorleserin Anne-Katrin Schlegel sind bereits ein ‚eingespieltes Team‘: Die nächste kulinarische Lesung ist für Mai geplant, wenn ein interkultureller Mix aus „Matjes und Wasabi“ durch Kopf und Magen gehen soll. Für den Herbst ist geplant, den Bogen noch weiter zu spannen und auch die bildende Kunst einzubeziehen, wenn unter dem Motto „Sonne auf dem Teller“ dann „Frida Kahlo und ihre Kochkunst“ Thema sein wird.
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