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Musikalische Grudlagenforscher in Aktion: Das Ensemble Musikfabrik
Foto: Pedro Malinowski

Mehr als nur Gepose

20. September 2016

Das Ensemble Musikfabrik am 19.9. im Maschinenhaus Essen – Musik 09/16

Ich habe nicht die geringste Ahnung von Neuer Musik. Genau deshalb bin ich hier: Im Maschinenhaus Essen, beim Konzert des Ensembles Musikfabrik, meines bescheidenen Wissens nach die renommierteste Gruppe des Genres, die NRW zu bieten hat. Wobei, falsch: Einer der bekanntesten „Klangkörper" in Deutschland und weltweit, wie mir der neugierige Blick ins Programmheft verrät. Soso. Abgesehen davon gehe ich total unvorbereitet hin. Vielleicht der total falsche Ansatz. Vielleicht aber auch nicht. Zumindest, wenn man der Meinung ist, dass Kunst, egal wie Innovativ, auch ohne fachmännische Kenntnis eines gewaltigen Theoriegebäudes auf irgendeiner Ebene, in irgendeiner Form, funktionieren muss.

Ein Streichtrio betritt die Bühne, sie spielen Faux Mouvement, ein Stück des Komponisten Georges Aperghis. Zärtlichkeit, schrieb dieser einst, leite seit jeher sein kreatives Schaffen. „Zu laut", jammert ein Kind jetzt, wo die drei Streicher sich in Dissonanzen verlieren und Mutti bringt ihren kleinen Kulturverächter in Sicherheit. Ich bleibe, staune und verstehe – Bahnhof. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Ich beschließe, dass meine Sitznachbarin eine Expertin für Neue Musik ist – sie sagt leise Wow, an Stellen, die mir nicht aufgefallen sind und ihr obligatorischer Kennerblick überzeugt mich. Stück Zwei, auch von Georges Aperghis, so wie alle Stücke des Abends: Ein Mann und eine Bassklarinette betreten die Bühne. Das gefällt mir: ich höre ihn schnaufen und atmen, das Zischen und Klappern der Ventile, es entstehen Bilder vor meinen Augen. Ich weiß allerdings nicht, ob das beabsichtigt ist. Ich bin nicht sicher, ob ich das Stück verstanden habe: Meine Sitznachbarin hält sich aber die Ohren zu, und sie ist nicht die einzige. Trotzdem: am Ende gibt's frenetischen Applaus und in der Pause höre ich im Vorbeigehen, dass zwei Damen das Stück „phänomenal" fanden.

Diese eine Loriot-Szene

Ich bemühe mich weiter zu verstehen. Das ist sehr viel schwieriger, als zu genießen: Denn spätestens ab dem dritten Stück (A bout de bras) gewöhne ich mich an das Ungewohnte und folge der mir immer noch rätselhaften Musik, wie Alice dem Kaninchen. Das ist angenehm, und bietet Zeit und Raum zum Nachdenken: Darüber, ob Ohren zuhalten unter Fans Neuer Musik etwas anderes bedeutet als im Rest der Welt, vielleicht eine Art Respektsbekundung. Darüber, ob Schlagzeuger Dirk Rothbrust wirklich diese enorme Anzahl verschieden großer Plüschschläger braucht für dieses eine Stück (Fuzzy-Trio). Darüber, wie viel enorme Kreativität hinter seiner nerdigen Verbindung verschiedenster Klangkörper steckt.

Aber ich denke auch immer wieder an diese eine Loriot-Szene: Ein Schriftsteller kommt zu einer Lesung, verschluckt sich und gibt nur unverständliche Laute von sich. Das Publikum ist gebannt, hält es das Gegurgel doch für experimentelle Poesie. Klar, das wird keinem der Musiker gerecht, ich verstehe nicht viel von Neuer Musik, aber zumindest so viel, dass ich erkenne, dass jeder dieser Künstler in jedem Stück sein Instrument an die Grenzen bringt, den Horizont des Machbaren auslotet. Doch wenn das alles ist: Drückt diese Musik dann wirklich mehr aus, als das medizinisch messbare Lungenvolumen des Klarinettisten, als die mathematisch messbaren Fingerschläge pro Minute des Pianisten?

„Melanie, war das auf einen Atmer?"

Meine Sitznachbarin, die Expertin, fragt, ob ich das Damespiel der Bassklarinette auch so beeindruckend fand. Ich gestehe, dass ich absolut keine Ahnung habe. Manches gefalle mir auf einer ganz naiven Ebene, zum Beispiel das schwindelerregende Duett aus Klarinette und Oboe (A bout de bras). „Ach, das war nur Gepose", sagt sie. Aha.

Die zweite Hälfte des Konzerts beginnt. Wir hören hintereinander zwei Récitations von Aperghis, Neue Musik für Vokalisten. Aus Worten, die nur als Klangkörper dienen und anderen Lauten formt Carl Rosman große Klangkunstwerke, am Ende wird seine Stimme kehlig und brüchig und all diese feinen Nuancen bilden, zumindest für mich, eine Geschichte, grandios erzählt in einer rätselhaften Sprache. Wieder, frenetischer Applaus und meine Sitznachbarin fragt aufgeregt ihre Begleitung: „Melanie, war das auf einen Atmer?" Melanie hat keine Ahnung, die Sitznachbarin wendet sich an mich, mit vor Begeisterung glühenden Augen: „War das auf eine Atmung?" Wie aus der Pistole geschossen kommt meine Gegenfrage: „Häh?" – „Ja, der hat doch nur einmal am Anfang eingeatmet, deshalb wurde seine Stimme am Ende auch so brüchig" – „Ich dachte, das war ein Stilmittel", sage ich und bringe Melanie aus der Ruhe, die jetzt auch nicht mehr glaubt, dass man drei Minuten Récitation mit nur einem Atemzug schaffen kann.

Genießen und Nachdenken

Ich entschließe mich, nicht mehr an Experten zu glauben. Und nutze die letzten beiden Stücke zum Genießen und Nachdenken. Darüber, dass diese Kunst, befreit bis zur absoluten Nutzlosigkeit, auch einen gewissen Zauber hat: Neue Musik kann keine Hymnen bieten, keinen Tanz, keine Botschaft für die Massen – das heißt: keine Ideologie, keine Vereinnahmung von außen, sie gehört einzig und allein der Kunst. Und Kunst kommt von Können, und nichts, wirklich nichts anderem – zumindest hier. Ich denke, so wie der Elektroingenieur von übermorgen die theoretische Physik von heute braucht, brauchen die Musiker, die kommen, jene Grundlagenforschung, die Gruppen, nein, Klangkörper wie das Ensemble Musikfabrik bieten. Und das ist weit mehr als nur Gepose.

Ich verlasse das Maschinenhaus, setze mich ins Auto, mache entgegen meiner Gewohnheit nicht das Radio an und denke über all das nach. Aber auch, das muss ich gestehen, immer wieder an diese eine Szene von Loriot. Aber die veräppelt schließlich nicht den Künstler.

Dominik Lenze

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