Mit dem Glück ist es ja so eine Sache, eine ausgesprochen dialektische Sache, um genau zu sein. Die meisten Ereignisse, die bei einer Person oder Personengruppe so etwas wie Glück entstehen lassen, machen insbesondere deshalb glücklich, da sie einen exklusiven Charakter haben. Will heißen, das Glück des einen ist naturgemäß das Unglück – oder zumindest das Nicht-Glück – des anderen.
So gehört zu jeder einzigartigen Liebesaffäre mindestens ein Dritter, dem das ganz und gar nicht passt und zu jedem vermeintlichen Kollektivglück einer gewonnen Weltmeisterschaft mindestens alle anderen Fußballnationen, die deswegen vier Jahre lang von Rache träumen.
Vielleicht können wir auch einfach konstatieren, dass all jene, die diese durchaus ernüchternde Dialektik nicht wahrhaben wollen, krampfhaft nach Ersatzhandlungen suchen und dann Sekten oder Esoterik-Gruppen gründen. Aus gutem Grund sollten wir stets misstrauisch sein, wenn jemand das gleichzeitige Glück aller Menschen zum realistischen Ziel erklärt. Wer die bisweilen schwer erträgliche conditio humana nicht anerkennen will, der muss sein Heil jenseits des Menschlichen suchen – im Maschinellen oder im Metaphysischen. Beides irgendwie schlecht.
Tragischerweise funktioniert diese Logik auch umgekehrt, das Unglück des einen ist meist das Glück des anderen, auch wenn ein auf humanistischen Ideen gründender Gesellschaftsvertrag das Sprechen darüber explizit aus dem Diskurs verbannt.
Ein dramatisches Flugzeugunglück wie das jüngste, das für eine erhebliche Anzahl von Menschen ein nicht zu bestimmendes Maß an Leid, Schmerz und Trauer bedeutet, ist – so bigott das klingt – zwangsläufig schon wieder ein Glück für die berichterstattenden Medien. Einer der interessantesten Filme des Jahres – „Nightcrawler“ von Dan Gilroy – zeigt uns, auf welch perverse Art und Weise diese beiden Pole beieinander liegen, insbesondere dann, wenn sich dahinter ein Markt verbirgt.
Natürlich kann man die Auswüchse einer auf Klickzahlen basierenden Aufmerksamkeitsökonomie kritisieren, und im Nachgang des Flugzeugabsturzes wurde dies auch hinreichend getan. Aber auch hier sollte man etwas Gelassenheit an den Tag legen. Dass sich die Zeiten insgesamt vielleicht nicht über die Maßen geändert haben, zeigt schon die Lektüre von Heinrich Bölls Klassiker „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Aufmerksamkeit war schon immer eine Währung der Schaulust, die ihren Wert an Glück und Unglück bemisst.
Bleibt also eigentlich nur noch die Frage, wie es sich mit den vermeintlichen Gaffern verhält, die bei einem Verkehrsunglück auf der Autobahn stets besonders langsam, sich an der Sensation des Moments ergötzend, an der Unfallstelle vorbeifahren. Gibt es die eigentlich wirklich? Oder existieren sie nur in den Köpfen derer, in diesem Falle aller, die beim Versuch, die Gaffer zu entdecken, besonders langsam an der Unfallstelle vorbeifahren? Ich sag' ja, Dialektik.
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Vom Glück verfolgt
Kauf Dir was... – THEMA 05/15 GLÜCK
„Warum gibt es in der westlichen Welt kein Bruttonationalglück?“
Glücksministerin Gina Schöler über die Entwicklung ihres erfolgreichen Projektes – Thema 05/15 Glück
Kli Kla Klacks
Intro – Genug für alle
Gleiches Recht für alle!
Teil 1: Leitartikel – Aufruhr von oben im Sozialstaat
„Eine neue Ungleichheitsachse“
Teil 1: Interview – Soziologe Martin Heidenreich über Ungleichheit in Deutschland
Klassenkampf im Quartier
Teil 1: Lokale Initiativen – Bochums Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Stahlhausen
Gerechtigkeit wäre machbar
Teil 2: Leitartikel – Die Kluft zwischen Arm und Reich ließe sich leicht verringern – wenn die Politik wollte
„Je größer das Vermögen, desto geringer der Steuersatz“
Teil 2: Interview – Finanzwende-Referent Lukas Ott über Erbschaftssteuer und Vermögensungleichheit
Gegen die Vermüllung der Stadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Umweltschutz-Initiative drängt auf Umsetzung der Einweg-Verpackungssteuer
Die Mär vom Kostenhammer
Teil 3: Leitartikel – Das Rentensystem wackelt, weil sich ganze Gruppen der solidarischen Vorsorge entziehen
„Die gesetzliche Rente wird von interessierter Seite schlechtgeredet“
Teil 3: Interview – VdK-Präsidentin Verena Bentele über eine Stärkung des Rentensystems
Der Kitt einer Gesellschaft
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Landesverband des Paritätischen in Wuppertal
Der Staat will zuhören
Wandel im niederländischen Sozialsystem – Europa-Vorbild: Niederlande
Armutszeugnis im Reichtum …
… und alternative Fakten im Wirtschaftssystem – Glosse
Konflikt-Kanzler
Intro – Friedenswissen
Streiken statt schießen
Teil 1: Leitartikel – Das im Kalten Krieg entwickelte Konzept der Sozialen Verteidigung ist aktueller denn je
„Als könne man sich nur mit Waffen erfolgreich verteidigen“
Teil 1: Interview – Der Ko-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung über waffenlosen Widerstand
Widerstand ohne Waffen
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen und ihr Landesverband NRW
Herren des Krieges
Teil 2: Leitartikel – Warum Frieden eine Nebensache ist
„Besser fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir?“
Teil 2: Interview – Philosoph Olaf L. Müller über defensive Aufrüstung und gewaltfreien Widerstand
Politische Körper
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Friedensbildungswerk setzt auf Ganzheitlichkeit
Unser höchstes Gut
Teil 3: Leitartikel – Von Kindheit an: besser friedensfähig als kriegstüchtig
„Das ist viel kollektives Erbe, das unfriedlich ist“
Teil 3: Interview – Johanniter-Integrationsberaterin Jana Goldberg über Erziehung zum Frieden
Platz für mehrere Wirklichkeiten
Teil 3: Lokale Initiativen – Kamera und Konflikt: Friedensarbeit im Medienprojekt Wuppertal
Kinder verkünden Frieden
Das Projekt „Education for a Culture of Peace“ – Europa-Vorbild: Zypern