Da hat man sich mutig selbstständig gemacht. Mit einer Geschäftsidee, mit einer Fähigkeit, oft aus Arbeitslosigkeit heraus. Im zweiten Jahr ist ein Kundenstamm aufgebaut, die Umsätze sind nicht berauschend, aber auskömmlich. Jetzt könnte man die Existenz entwickeln, in die Zukunft investieren, vielleicht Mitarbeiter einstellen. Doch es fehlt an Geld. Mit ein bisschen Pech kommt dann noch das Finanzamt und möchte einen größeren Anteil vom Kuchen als man bis dahin veranschlagte. Das Ergebnis heißt „Liquiditätskrise“ und „Kreditbedarf“ – so mancher Existenzgründer flog deswegen früh aus der Kurve. Mangels dinglicher Sicherheiten winken Hausbanken bei der Stützung kritischer Existenzverläufe gern ab.
Deutlich über eine Million Menschen in Deutschland haben sich in den letzten zehn Jahren mit „Ich-AG“ & Co. auf die Achterbahnfahrt einer Existenzgründung gewagt. Ein Drittel davon setzte auf Dienstleistungen für Haushalt oder andere Unternehmen, in der Rangliste folgen Geschäftseröffnungen im Einzelhandel, etwa Kiosk oder Gemüseladen. Andere suchten ihr Heil per Imbissbude oder Klein-Café in der Gastronomie. „Wie viele bis heute überlebt haben, ist auch Experten nicht klar“, sagt Falk Zientz von der Bochumer GLS-Bank, „die Schätzungen reichen von 30 bis 80 Prozent.“
Wie man finanzbedrängten Existenzgründern und Mini-Arbeitgebern möglichst wirksam weiterhilft, ist seit einigen Jahren Zientz‘ Arbeitsfeld. Das Instrument heißt „Mikro-Kredit“ und wurde von der GLS-Bank quasi aus den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas importiert. Der Wirtschaftswissenschaftler und Friedens-Nobelpreisträger Muhammad Yunus gründete in Bangladesh die Grameen-Bank, die wiederum verarmten Familien, insbesondere Frauen mit Mini-Finanzierungen unter die Arme griff: Gib ihnen Geld für Nähmaschine und Stoff, damit sie Kleider schneidern und eine Existenz aufbauen können. Allerdings lief das Modell teilweise aus dem Ruder, Dutzende überschuldeter Kreditnehmer nahmen sich 2010 in Indien das Leben.
Hierzulande glauben Zientz, die GLS-Bank und mit ihnen die Bundesregierung an die positive Kraft des kleinen Geldes. Anfang 2010 startete ein spezieller Fonds, aus dessen Zinserträgen die Strukturkosten der regionalen Mikrofinanz-Institute gedeckt werden sollen. Aktuell stehen 60 solcher Einrichtungen als Anlaufstelle und Beratungsinstanz vermittelnd für Kleingewerbler parat, die bei üblichen Banken meist leer ausgehen. Es sei eine „sehr erfreuliche Erfolgsgeschichte“, berichtet man in Bochum: „2009 haben wir 230 Mikrokredite vergeben, im vergangenen Jahr waren es schon 4.600. Gegenwärtig laufen wir auf den 10.000. Vertrag zu.“ Ein Drittel der Unterstützten stammt aus NRW.
Typisch für viele „Kreditgeschichten“ ist die von Ayfer Saygili (38). Mit einiger Branchenkenntnis ausgerüstet, machte sich die Duisburgerin 2010 aus der Arbeitslosigkeit selbstständig. Ihr „Aretias“-Reisebüro ist auf Türkei-Flugreisen spezialisiert: „Mein Mann sagte irgendwann: Du kannst das doch – warum machen wir das nicht zusammen?“ Jetzt läuft das Geschäft, allerdings mit einer Einschränkung. Wenn eine türkische Familie für sechs Personen Ferienflüge bucht, zahlt sie oft den Betrag in zwei oder drei Raten. „Ich muss aber bei den Fluglinien in Vorleistung treten.“ Nach frustrierenden Gesprächen mit der Hausbank kam Saygili über die türkische Community zum örtlichen DUT-Mikrofinanzinstitut. Kurz darauf war der 7.500-Euro-Kredit bewilligt. Dafür zahlt sie 8,5 Prozent Zins – deutlich weniger, als die normale Kontoüberziehung kostet. „In zwei Jahren“, sagt die berufstätige Mutter, „habe ich das abgetragen.“
Zielgruppe der Kleinkredit-Geber von der GLS-Bank sind übrigens nicht unbedingt Gewerbe-Starter, eher angelaufene Existenzen mit „Bedarf nach Stabilisierung, Professionalisierung und Weiterentwicklung.“ Das hat Falk Zientz und der GLS-Bank auch Kritik eingebracht. Dennoch will man hier eher vorsichtig bleiben und keine „hohen“ Mikrokredite – die bis zu 20.000 Euro reichen können – vergeben: „Wo das schiefgeht, ist man schon scharf an der Überschuldung.“ Gewöhnlich sichern sich die Geldgeber auch über Mikro-Bürgen aus dem Umfeld des Kunden ab. „Wenn jemand anderes an ihn glaubt, glauben wir auch an ihn. Wenn er 5.000 Euro braucht und einen, besser fünf Bürgen für insgesamt die Hälfte hat, kriegt er auch den Kredit.“
Das war bei Dmitri Witkowski überflüssig. Als 20Jähriger hatte sich der Dortmunder mit einem Schlüssel-Notdienst auf eigene Beine gestellt – „noch ein Wohnzimmergeschäft. Fünf Jahre später kam die Erweiterung mit einem Fachgeschäft für Sicherheitstechnik. Das ergab natürlich Kapitalbedarf für Ladeneinrichtung, Maschinen und Rohlinge, den ich allein nicht aufbringen konnte.“ Mittlerweile beschäftigt Witkowskis Firma W & F einen Mitarbeiter, im kommenden Jahr soll ein Auszubildender hinzukommen. Dann könnte der inzwischen 27jährige gelernte Kaufmann „vielleicht auch mal eine Woche Urlaub am Stück machen.“
Den 20.000-Euro-Kredit, der auf drei Jahre Laufzeit veranschlagt war, hat Dmitri Witkowski im Januar zurückgezahlt. Nach eineinhalb Jahren.
www.mikrokreditfonds.de
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