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V.l.n.r.: Elisabeth Röttsches, Horst Schiereck, Jürgen Wiebicke, Franz Müntefering
Foto: Ulrich Schröder

Nervöses Deutschland

04. Februar 2017

Literaturhaus Herne: Lesung mit Jürgen Wiebicke und Franz Müntefering – Literatur 02/17

Ein kollektives nervöses Zucken geht durch Deutschland: „Immer mehr Menschen spüren ein zunehmendes Unbehagen daran, dass an unserem derzeitigen Lebensstil etwas grundsätzlich faul ist. An unserer Art zu wirtschaften, an unserer Art zu arbeiten, an unserem Umgang mit Zeit, Mobilität und menschlichen Beziehungen.“ Diesen Impuls hat der 1962 in Köln geborene freie Journalist, Autor und Philosoph Jürgen Wiebicke aufgenommen und sich für sein 2016 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Buch „Zu Fuß durch ein nervöses Land“ aufgemacht, um die Ursachen der großen „Lähmung im Denken und Handeln“ zu ergründen, die der permanente „Krisenmodus“ hierzulande zeitigt. Doch bei Wiebickes philosophischer Wanderung geht es nicht nur um Krisenbewältigung, sondern auch um vermeintliche gemeinschaftliche Identitäten: „Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält“ lautet der Untertitel seines Buches, das der Autor in einem vom früheren Herner Oberbürgermeister Horst Schiereck moderierten Gespräch mit dem ehemaligen SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering am 1. Februar vor rund 100 Gästen im Herner Literaturhaus vorstellte.

Das Wandern durch die Republik habe für den langjährigen Moderator der WDR-5-Formate „Neugier genügt“, „Funkhausgespräche“ und der Freitagabend-Sendung „Das philosophische Radio“ eine Schlüsselfunktion als „zweiter Lernmodus“: „Das Denken verflüssigt sich beim Wandern“, erläutert der Buchautor die physische Aktivierung des mentalen Prozesses. Dieser unterscheide sich jedoch deutlich vom Pilgern, das nicht erst seit Hape Kerkelings 2015 verfilmtem Kultbuch „Ich bin dann mal weg“ (2006) einen regelrechten Boom erlebt. Wiebickes Weg führt nicht nur an symbolträchtig idyllisierte Orte, sondern „auch dorthin, wo es schäbig ist“: „Ich glaube nämlich, dass man eine Gesellschaft am besten von ihren Rändern her verstehen kann. […] Flüchtlingsheime, Psychiatrien, Schlachthöfe liegen nicht am Jakobsweg, verdienen anscheinend keine Wegweiser, aber ich möchte dorthin. Hier zeigen sich die feinen Haarrisse in der Gesellschaft zuallererst, aus denen schnell Klüfte werden können.“ Diese zeichnen sich bereits sehr deutlich ab, denn „der Boden unter unseren Füßen schwankt“ bereits und „überall riecht es nach Krise“: „Weit verbreitet [ist] das Gefühl, dass die fetten Jahre vorbei sind.“

Am Tag des Loswanderns im – auch meteorologisch heißen – Sommer 2015 werden in den Medien „die Toten einer Serie von Anschlägen islamistischer Terroristen gezählt“, während im Zeichen der ‚Griechenland-Krise‘ ein bevorstehender Börsen-Crash befürchtet wird. Nicht nur vor diesem Hintergrund erscheint der Aufbruch umso mehr als Ausbruch, der den Mittfünfziger zugleich in seine Jugend zurückversetzt und ihm das, was vor ihm liegt, so endlos erscheinen lässt wie die Sommerferien seiner Kindheit. Die selbstgewählte Einsamkeit seiner Wanderetappen erlebt Wiebicke als Kontrapunkt zur ‚Überkommunikation‘ im Berufsalltag. Zudem ist es eine Wanderung weg von urbanen Räumen und der bornierten Scheuklappen-Perspektive des Großstädters, hin zur Sichtweise der ländlichen Bevölkerung – war doch Wiebickes Vater ebenfalls Landwirt. Angesichts wachsender ökonomischer Schwierigkeiten landwirtschaftlicher Betriebe und einem immer härteren „Zeitregime“, das gerade diese Branche verstärkt zu industriellen Zeittaktungen zwingt, mache sich auch hier ein wachsendes ‚Grundgefühl von Nervosität‘ breit.

Diesen Aspekt greift der zweite Gast des Abends bereitwillig auf: Franz Müntefering legt Wert darauf, ein Leben ohne Uhr zu führen – auch wenn dies natürlich im Handy-Zeitalter obsolet klinge. Den Begriff der ‚Nervosität‘ als gesellschaftliche Zustandsbeschreibung findet der ehemalige Berufspolitiker treffend und fügt aus Sicht seiner Zunft noch den der ‚Ratlosigkeit‘ hinzu. Müntefering lobt die ‚Andersartigkeit‘ von Wiebickes stark auf persönlichen Erfahrungen beruhender Philosophie und versucht die Zeitgeist-Entwicklung historisch einzugrenzen; als „Brechpunkt“ definiert er hierbei die Wendejahre 1989/90, als man sich nach dem Mauerfall der Illusion hingegeben habe: „Es wird alles Schritt für Schritt gut werden in dieser Welt.“

Jürgen Wiebicke fügt eine weitere politisch-kulturelle Zeitgeist-Diagnose hinzu und konstatiert, die „Versammlungsdemokratie“ sei auf dem Rückzug. Er fordert neue Orte der Begegnung, Auseinandersetzung und Gestaltung und will eine „Demokratisierung von unten revitalisieren“, wobei er die sogenannte Flüchtlingskrise als Chance begreift. So seien viele „Flüchtlinge in einer Phase ins Land gekommen, in der viele auf dem Sprung waren, sich wieder einzubringen“: „Da schlummert etwas im Land, und dieser Schatz ist bislang noch nicht gehoben worden“, zeigt sich Wiebicke überzeugt. Die vermeintliche Krise sei somit eine Möglichkeit, „mit der neoliberalen Scheiße aufzuhören“ – womit sich der Bogen zur historischen Analyse Münteferings schließt, wenn man das Ende der staatssozialistischen DDR zugleich als gesamtdeutschen Anfang eines Siegeszuges wirtschaftsliberaler Politik begreift. Dieses Denken als Leitlinie staatlichen Handelns setzt sich bis heute scheinbar ungebrochen fort und verändert selbst die Strukturen der ehemals größten Volkspartei: „Auch die SPD hat einen Schwenk in Richtung autoritärer Staat gemacht“, konstatiert Moderator Horst Schiereck. Diese Erkenntnis bewegt den inzwischen 77-jährigen Müntefering immerhin zur Forderung nach einer Erneuerung der politischen Streitkultur: „Demokratie kann nur funktionieren, wenn man auch darüber streitet, was der richtige Weg ist.“

Die Notwendigkeit struktureller Erneuerung gemeinschaftlichen Miteinanders versucht Jürgen Wiebicke auch am Beispiel Hernes aufzuzeigen – eine Kommune, die ihm beim ersten Besuch vor allem als „Stadt der Spielhallen“ aufgefallen ist. Dies interpretiert der Philosoph als Symptom von Realitätsflucht, die er mit dem ‚Platonischen Höhlengleichnis‘ und dem damit verbundenen Drang zu erklären versucht, die virtuelle Welt als Realität wahrzunehmen, um der Wirklichkeit zumindest temporär zu entkommen. Dies ist nicht weiter verwunderlich – hat sich doch das postsozialistische Versprechen ‚blühender Landschaften‘ nicht nur in den ‚Neuen Ländern‘, sondern auch im Ruhrgebiet als ‚Osten im Westen‘ spätestens nach dem ‚Kulturhauptstadt‘-Jahr 2010 als weitgehend leer erwiesen. Nach wie vor ist das postindustrielle Ruhrgebiet weit entfernt vom gelungenen Wandel zum ‚Kulturgebiet‘. An die Zeche als ehemaligem „Mittelpunkt des Sozialraums“ ist ein Vakuum getreten, das weiterhin nicht gefüllt wird. Und selbst die Kneipenkultur stirbt allmählich: 190 Kneipen habe es, so Wiebicke, früher etwa in Datteln gegeben – geblieben seien „nur noch ein paar furchtbare Kaschemmen“.

An Franz Müntefering, den er beim zweiten Herne-Besuch auf seiner Wanderung getroffen hat, interessiert Jürgen Wiebicke insbesondere, wie er „über die Gestaltungsmacht von Politik denkt“. Müntefering diagnostiziert insbesondere ein „fehlendes Konzept, mit den zunehmenden Wanderungsbewegungen umzugehen“ und bekennt sich insbesondere zur Ethik seines ‚Hausphilosophen‘ Albert Camus, der die Hauptfigur des Arztes in seinem existentialistischen Roman „Die Pest“ (1947) wie einen modernen Sisyphos auftreten lässt, der bestrebt ist, so viele Menschen wie möglich zu retten. Hinsichtlich politischer Entscheidungen hebt Müntefering im Zeitalter der künstlichen Intelligenz den Stellenwert einer humanistischen Ethik besonders hervor: „Wir Menschen entscheiden.“ Dies dürfe man sich nicht kaputtmachen lassen. Zudem beklagt er die Renaissance nationalistischer, autokratischer Anti-Demokraten und fragt sich jetzt schon, wie ein Donald Trump überhaupt jemals wieder abgewählt werden solle – durch die Gegenkandidatur eines noch mächtigeren Tycoons wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg etwa?

Angesichts solcher Fragestellungen sieht Jürgen Wiebicke die Notwendigkeit begründet, Formen der ‚analogen Demokratie‘ wieder zu stärken und fordert ein Fach wie „Quellenkritik“ statt „Informatik“ an Schulen. Wiebicke konstatiert, dass es inzwischen „an die Substanz der Demokratie“ gehe und möchte als Gegenmittel „Philosophie als Pflichtfach“ einführen, womit er längeren Zwischenapplaus erntet. Eine zentrale Frage ist für ihn: „Wie kriegen wir junge Menschen dazu, sich stärker am politischen Prozess zu beteiligen?“ Wahlen betrachtet er hierbei vor allem als „Modell für ruhige Zeiten“ und sieht darüber hinaus die Notwendigkeit, wieder verstärkt als ‚Citoyen‘ aktiv zu werden. 

Als Schlüsselerlebenis schildert Jürgen Wiebicke abschließend die Begegnung mit einem Angler unweit des Schiffshebewerks Henrichenburg und beschreibt das kontemplative Regengetröpfel an jenem Tag als Gegenakzent zur Hektik des Alltags: „Meine Wahrnehmung von Zeit beginnt sich aufzulösen.“ Das Gespräch mit dem sibirischen Migranten Michail sei „anders als alle bisherigen“ gewesen. „Hier in Deutschland hat keiner Zeit“, konstatiert der 34-Jährige, der das Idyll seiner Kindheit inzwischen jedoch auch in Sibirien nicht mehr wiederfinde, wo dies einmal anders gewesen sei. Für 3.500 Euro monatlich war Michail einst am Kosovo-Einsatz der NATO beteiligt. Heute findet er diesen falsch.

Zufallsbegegnungen wie diese machen die Würze des Buches von Jürgen Wiebicke aus. Doch auch geplante Begegnungen mit Persönlichkeiten wie der inzwischen 82-jährigen Fluxus-Künstlerin Mary Bauermeister, die einst mit dem Pionier der Zwölfton-Musik Karlheinz Stockhausen zusammenlebte, fördern grundlegende Erkenntnisse zutage: „Wir sind verglichen mit allen Kulturen vor uns materiell so unendlich viel reicher, doch ein Genug scheint es niemals zu geben“, lautet die Quintessenz dieser Begegnung. Hoffentlich wird es uns gelingen, noch rechtzeitig umzusteuern, bevor es zu spät ist und der ökologische Kollaps irreversibel.

 

Jürgen Wiebicke: Zu Fuß durch ein nervöses Land. Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2016.

Ulrich Schröder

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