Weihnachten lief im Fernseher eine Hoppenstedt-Hommage mit dem Stammteam des Neo Magazin Royale. Giulia Becker spielte in einer Episode einen einsamen Single, die vor dem PC sitzt und chattet. Bis sie in der virtuellen Welt auf eine ebenso verlorene Seele trifft. Diese Szene spart nicht an Klischees und zeigt doch Sympathien für diese beiden AußenseiterInnen.
In ihrem ersten Roman „Das Leben ist eins der Härtesten“ beschreibt Giulia Becker ein Kennenlernen, das an diese Szenerie erinnert: Die beiden ProtagonistInnen Kerstin und Willy-Martin sind jeden Abend zum Online-Kniffeln verabredet. Irgendwann schreiben sie miteinander mehr, schließlich tauschen sie Fotos aus. Der Hobby-Taubenzüchter macht den Anfang, fünf Minuten später erhält auch er eine Foto. Es ist einer der vielen Romanpassagen, mit denen die Mitarbeiterin des Gag-Teams um Jan Böhmermann bei dieser Lesung im Bahnhof Langendreer für Lachen sorgt.
Und eine skurril-böse Distanz und zugleich eine Sympathie für das Abwegige dieser Figuren finden sich auch in Willy-Martins Erleuchtung, als er erstmals das Foto auf seinem PC-Bildschirm sieht: „Kerstin ist wunderschön, sie ist in Willy-Martins Alter, hat gebräunte Haut und schwarze kurze Haare. Auf dem Foto trägt sie einen schwarz-weiß gestreiften Strick-Pullover und sitzt auf einer orangenen Ledergarnitur, in der Hand ein großes, angebissenes Stück Salami.“
Online-Kniffel, Taubenzucht, ostentativer Salami-Konsum, später kommt noch das Festnetztelefon hinzu, dass Willy-Martin auf Kerstins Foto entdeckt. Für ihn ein Wink für die Seelenlandschaft. Becker entwirft eine Skurrile Lebenswelt von Menschen jenseits der 40, ein lakonischer Ü40-Existenzialismus wenn man so will. „Das ist so ein Alter, wo bei vielen noch was losgeht“, erzählt die 28-Jährige, die auch die aufopferungsvolle Pflege von Angehörigen dieser Generation hinzuzählt: „Später sind sie oft von Altersarmut betroffen, obwohl sie die Stützen der Gesellschaft sind.“
Aus auktorialer Perspektive webt sie die Lebensläufe ihrer Figuren. Da ist Silke Möhlenstedt, die vor Jahren die Notbremse im Zug bediente und bis in die erzählte Gegenwart die Folgen spürt: Ehetrennung, Jobverlust und finanzielle Probleme. Da ist Renate, die um ihren verstorbenen Malteser-Mischling namens Mandarine-Schatzi trauert, nach dem der Hund in einer Punica-Flasche stecken blieb und erstickte. Oder da ist Marquard, der sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, die „Banhhofsmission“ zu revolutionieren: weg vom Suppenküchen-Image, hin zum Starbucks-Flair mit schicken Vintage-Sesseln. „Menschen wie ihn kennen wir alle“, sagt Becker über diese Figur. „Das sind die neoliberalen Arschlöcher, die alles optimieren müssen.“
Obwohl dieser Marquard einer von vielen Männern in ihrem Roman ist, sei dieser in den Feuilletons meist als „Frauenliteratur“ rezipiert worden. Über 20 Interviews gab Becker zudem – es waren alles Journalistinnen. Umso überraschter zeigt sich Becker an diesem Abend: „Ich sehe da keinen Grund, warum es nur Frauen lesen oder besprechen sollten.“ Für ihren nächsten Roman plane die Autorin daher, wie sie scherzt, den Namen eines Schriftstellerkollegen auszuleihen: Heinz Strunk.
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